TIPPELKLIMPER




Fritz lernte ich in einer Bushaltestelle kennen. Er sprach mich Englisch an, obwohl wir in Sachsen gemeinsam auf den gleichen Stadtbus warteten. Ich antwortete Russisch und das verstand er als Angebot für eine dauerhafte Freundschaft und lud mich ein zu einem geheimen Treffen auf einer abgelegenen Insel in Potsdam: Hermannswerder. Wir wurden mit einem nach Inuit-Plänen gebauten Kanu abgeholt, das von Michael Bach, einem höchst verdächtigen, Fidel Castro ähnelndem Individuum, gerudert wurde.

Jener, der sich Bach nannte und über den Fluß setzte, spielte tatsächlich alle in der Stadt verfügbaren Instrumente, so: Fideln und Geigen aller Größen, ebenso Flöten aus Holz, Metall und chemisch hergestellten Materialien, Schalmeien aller Jahrhunderte, rechtswindige Drehleiern, hellenistische und helvetische Harven, Cimbeln, Kuh- und Kirchenglocken, Pauken und Jagd-Trompeten.

Mit der Botschaft „Seht her, das alles spiele ich“ bekehrte er die nichtmusikalische Welt. Darunter Zöllner, marxistisch geschult und getrimmt, eine sozialistische Persönlichkeit von einer nichtsozialistischen schon äußerlich zu unterscheiden. Bach gehörte jedenfalls, schon seines Namens wegen zu zweiteren: Hose aus grobem Leinen, Jacke aus Schweinsleder, speckig und abgescheuert. Fusselbart und Struwwelpeterhaare. Beides ungewaschen, ungekämmt.

Bach beherrschte die mittelalterliche Geduld. Er packte aus seinem Weidenkorb aus, zeigte, stimmte, spielte. Die Zöllner klatschten Beifall. Doch eine sozialistische Persönlichkeit!

Bach wäre der ideale Schmuggler gewesen für antike Instrumente. Aber er entzog sich unseren Versuchungen wie Jesus dem Teufel in der Wüste. Dabei hätten seine wenigen kleinen Reisen mehr eingebracht als all unsere Konzerte vor Tausenden. Wir waren, das soll für die Musikgeschichte festgehalten werden, gezwungen, unsere musikalische Unkultur einem größeren Personenkreis zuzumuten, allein – sonst wären wir verhungert.

In Bachs Wohnung traf sich die Band und probte. Das heißt, irgendwann begann einer zu spielen, die anderen setzten, je nach Reaktionsvermögen ein und so kamen sie auch zum Schluß. Derjenige, der zuletzt merkte, daß nicht mehr gespielt wurde, hörte, abprupt in der Phrase abbrechend, auf. Das war so in etwa das Gegenteil von dem, was uns Bernreuther mit seiner „Kunst der Wiederholung“ eingebläut hatte. Jede halbverschluckte Vorsilbe, jede nicht genügend ausgehaltene Endung wurde gerügt.

Tippelklimper klimperte eben und was so zufällig an Tempo und Lautstärkevariation zustandekam durch Verspielen oder Tempodysharmonien, verkauften sie als Arrangement. Groteskerweise, entgegen jeder Theorie, hatte das Publikum eine Vorliebe dafür. Für sie war dieser Dilletantismus eine Bezeugung von Spontaneität.

Manchmal tippelte die Band durch den Park des Sancousie in die nächste Kneipe oder nach Bratislava, Budapest, Breslau. Und wenn sie schnell tippelten, klimperten sie auch schneller. Und umgekehrt. Das war eine wirkungsvolle Verknüpfung von physikalischen und biologischen Gegebenheiten, die durch Wissenschaftskreise bisher noch nicht gebührend gewürdigt wurden.

Michael Bach war auch das Herzstück von Tippel und Klimper. Sozusagen der Obertippler und Vorklimperer. Oder umgekehrt.

Er putzte sich nicht die Zähne mit Zahnbürste und – creme, er riß einen Ast vom Apfelbaum, biß darauf herum und scheuerte sich damit das Gebiß. Damit nahm er die ganze Biokultur der 90er vorweg. Konsequenter als heute. Nicht Bio-Strom, sondern Garkeinstrom. Höchstens Kerzen. Er ist einer der Vorkämpfer des Urtümlichen, der Urtyp schlechthin.


Die anderen unterschieden sich graduell von ihm, aber erheblich.

Christian zum Beispiel. Er nannte sich Fritz nach dem preußischen König, dessen entfernter Nachfahr er ist, was er natürlich nicht beweisen kann. Dabei hätte er nicht einmal als Zimmerpage und schon gar nicht als Hofnarr getaugt. Fritze putzte seine Zähne nicht wie Bach. Er putzte entweder gar nicht oder mit Rotwein. Dazu gurgelte er dorische Melodien.

Und Fritze war auf Reinlichkeit nicht so bedacht wie die anderen, ging es ihm sowieso mehr um die Reinheit des Geistes. Wie er nach Rotwein Bier trank und dazwischen verzuckerten Apfelkorn, las er nach Brecht und dazwischen Gerichtsberichte, die er aus einem Kneipenbesuch mitgehen ließ. Fritzes Haupt zierte ein Fußballfeld mit Rasen oder anders gesagt: er hatte eine überdimensionale Tonsur auf seiner Rübe. So trat er auch auf: Als Mönch. In Zeiten, wo es dünn aussah mit Engagements, verdingte er sich entweder als Küster oder als Tierbändiger eines Frettchenzirkusses. Wer bei ihm die Ehre hatte zu nächtigen, kann sich mit Sicherheit an einige schlaflose, aber geruchsintensive Stunden erinnern.

Fritzes Mund war umgeben mit gekräuselten Barthaaren, die vor Sinnlichkeit strotzten und deren Wurzeln nicht selten geplagt wurden von beißwütigen Insekten. Nach einer Nacht, die ich in seinem Bett (ohne ihn) verbrachte, reichte er mir bedeutungsschwanger ein wohlbekanntes Medikament: „Für den Fall der Fälle“.

Was für den „Fall der Fälle“ hieß, bedeutete für mich zweimal Nachschlag beim Hautarzt, so renitent und fortpflanzungswütig waren die Tierchen, die man gemeinhin als Sackratten bezeichnet.

Dennoch – Fritz war der edelste Tippler und Klimperer, nicht nur, weil er die feine Laute schlug, sondern er zitierte, ohne nachzudenken Klopstock und versuchte sich in eigenen Versen, die den Zitaten in nichts nachstanden. Sah er doch eh schon aus wie Franz von Assissi, so paßte es dazu, daß seine Groupies der Jungfrau Maria nicht unähnlich waren.

Hier sehen wir sie tippeln, hier hören wir sie spielen: in Potsdamer Kneipen, vor Brandenburger Bauern, die dabei ihre Sense wetzen, zu Schlemmerfesten mit gebratenen Ferkeln, wo den Freßsäcken das Fett in den offenen Kragen trieft, in Gemeindesälen, auf Märkten, in Straßenbahnen, im Kopfstand, nüchtern, aber doch meist im Thee. In Berlin. Am Ringelnatzbrunnen zu Wurzen und über der Synagoge Keilstraße vier in Klein-Paris. Es gibt wohl kaum einen Ort, ein Sujet, das nicht ertippelt und erklimpert wurde.

Als Robert zur Band stieß, trug er eine Nickelbrille und Knickebockerhosen. Er war bleich wie die Nacht und hatte alle Draculaverfilmungen verschlungen, so wie Fritz alle Ausgaben der Heiligen Schrift. Robert war ein Wahnsinnsgeiger. Er traf zwar keinen Ton, jedoch spielte er so schnell, daß es keinem auffiel. Er – Paganini der Folkszene. Er geigte im Kopfstand, auf Toiletten, im Bett des Mannes, dessen Frau er eben noch im Arm hielt, er geigte französisch, in Triolen, fortissimo und in phrygischen Tonarten.

Robert trug eine Narrenkappe, unter der man selbst im Februar ins Schwitzen kam, die er aber auch im Hochsommer in Budapest nicht abzunehmen gedachte. Robert geigte nüchtern langsamer als angetütelt und er kam zur Band, als er sein Abitur mit Auszeichnungen abgeschlossen hatte, wohl weil er, wie einige böse Zungen behaupten, ein nicht näher zu beschreibendes Verhältnis mit der Direktorin hatte.

Seine Spezialität war es, sich mit seinem keimigen Narrenkostüm an weiß gekleidete Leute anzuschmiegen, was einige, beiderlei Geschlechts, schlichtweg als Aufforderung verstanden. Robert verschwand zwischendurch, wenn seine schrägen Töne nicht unbedingt gebraucht wurden, hinter Hecken, in Hauseingängen, Bahnhofstoiletten, unter Brücken, auf Dachböden, in Abstellkammern oder unter dem Schreibtisch der Veranstalter.

Später, als Tippelklimper begann, sich mit der Carmina Burana zu beschäftigen, gründete er eine Band, zur Hoch-Zeit des Punk, wo es schlichtweg eine Sünde war, nur einen einzigen Ton während des ganzen Abends auch nur annähernd zu treffen. Robert hat nie gesündigt. Und auch nie gebeichtet.

Roberts hervorstechende Eigenschaft war sein speckiges Lachen. Er war ein einziges Smily und das lachte entweder zu früh, zu spät oder hörte gar nicht mehr auf. Seine zweitbeste Eigenschaft war, daß er uns alles besorgen konnte, was wir dringend brauchten: Stroh 80, Havannas, Nockengummis mit Schokoladengeschmack, Jesuslatschen, Chianti, Dossies über uns, die noch gar nicht geschrieben waren und Streichhölzer. Er ließ einfach nichts liegen, nichts anbrennen und nichts aus. Seine drittbeste Eigenschaft war der Klang seiner Stimme. Die glich einem verrußten Ofenrohr, einer Dampflok, die seit dem letzten Krieg ausrangiert war, einem röhrenden Hirsch, der noch nie zum Zuge gekommen ist. Er fraß paketweise Kreide, gurgelte mit Emser-Salz und ließ sich wöchentlich einmal eine Panthenol-Spritze verpassen. All das machte es nur noch schlimmer. Robert sang zwar nur dritte Stimme, aber wenn sie zum Einsatz kam, setzten die Zuhörer eine spontane Leidensmine auf. Der Kontrast war heftiger als der zwischen Himmel und Hölle. Um so größer die Erleichterung, wenn Robert auch nur eine Atempause einlegte. Das was Aristoteles unter Katharisis realisierte, Robert potenzierte es ins Quadrat.


Der vierte im Bunde war Willy, der kleine Trompeter. Seine Trompete war so winzig wie ein Flachmann und er trug sie in der Brusttasche seines Jacketts. Nichtsdestotrotz pustete er kräftig hinein und das dröhnte fast wie die Posaunen von Jericho. Willy war anfangs noch unbeleckt, gut- und gottgläubig sowie verheiratet. Das hat sich in kurzer Zeit geändert. Er war auch der einzige, der Noten schreiben und auch lesen konnte. Das ist auch das einzige, was sich nicht geändert hat. Robert konnte sie lesen, aber aufgrund seines Zittermannes nicht schreiben. Und ich kenne seither jemanden, der Noten lesen und auch schreiben kann: nämlich Willy.

Willys Lachen unterschied sich nur wenig von dem des Teufelsgeigers, aber Willy wußte, wann man anfangen und aufhören mußte. Auch seine Stimme war nicht viel besser als die Roberts, jedoch versuchte Willy gar nicht erst, seine Stimmlippen zum Flattern zu bewegen. Jedenfalls nicht auf der Bühne.

Dennoch hatte er es faustdick im Trompetenrohr. Sein Großvater, ein Kirchenmusiker, grämte die Entwicklung seines Enkel so sehr, daß ihm wenige Jahre beschieden waren und zudem machte er Willy zum Universalerben eines beträchtlichen Gebäudes. Da das in die Wendezeit fiel, kam der Enkel nicht mehr auf die Idee, das Haus dem Staat zu schenken. Seine Großherzigkeit äußerte sich im Kauf eines Sportwagens, einiger ausgedehnter Reisen durch europäische Luxushotels und erst als das Wappenzeichen des Grafes von Kuckucksberg auf seinen Türen klebte, kehrte Willy reuig in den Stand der Spielleute zurück.

Gründungsmitglied von Tippelklimper. Freundin von Michael Bach. Hier sehr ausdrucksstark...


Der fünfte und vorvorletzte, Carsten, ist weniger Mitglied als Maskottchen. Er spielt seine Instrumente nur pantomimisch und die Band hält ihn wegen seiner ebenmäßig geformten Nase. Carsten ist eine Schönheit, auch wenn er inzwischen auf die vierzig zugeht. Er liebt Kettchen, Kettenhemden, hochschaftige Stiefel mit Absatz, durchsichtige Unterwäsche, Tattoos und niemals entgleitet ihm sein Lächeln. Er hat Karrieren als Dressman in den Wind geschlagen, um einem zu dienen: dem Tippeln und dem Klimpern. Dabei ist ihm das Tippeln ein Graus: Der Wind zerzaust ihm das lockige Schwarzhaar, der Teint wird durch den Straßenstaub arg strapaziert. Ebenso das Klimpern: die Saiten brechen die Fingernägel, nachdem sie schon die Farbe ruiniert haben. Beim Dudelsackspielen verwischt es den Lippenstift. Und beim Stampfen des Rhythmus stak schon manchmal der Absatz in den Brettern, die die Welt bedeuten. Aber allein Carsten garantiert dreizehn Zugaben, das Mergendising von Plakaten, CDs, Hemden und anderem Krimskrams. Allein er mobilisiert ganze Abiturjahrgänge von Groupies. Wegen ihm wird die Band zu Parties und Filmpremieren eingeladen und kommt ins MTV.


Der einzig echte Musiker, ein Naturgenie, ist Bim. Er kommt aus einer Gegend, wo das Wort Musik noch nicht erfunden wurde. So konnte er, unbeschwert allen kulturellen Ballasts etwas erschaffen, das es weder vorher gab noch bisher verstanden wurde. Er war der erste und letzte seiner Art und er weiß es. Aber seine Bescheidenheit erlaubte es ihm nicht, Kapital aus dem Talent zu schlagen. Es gab Abende, da wurde er auf der Bühne festgebunden, sonst hätte er die Flucht ergriffen. Bim fühlt sich an den Pranger gestellt, wenn er seine Kunst öffentlich demonstrieren sollte. Dabei besteht sie im Schlagen auf die Mitte einer kreisrunden Fläche mit einem unterarmgroßen Schlegel, dessen eine Seite stark verdickt ist. Niemand hat von Bim erwartet, daß er auch nur annähernd übliche Rhythmen bedient. Die mathematische Formel für seine niederfrequenten Schläge werden derzeit vom Max-Planck-Institut dekonstruiert und man ist sich inzwischen sicher, daß es sich um eine Gleichung der vierten Ordnung handelt.

Ich brauchte irgendwann mal`n Paßfoto - da hab ichs rausgeschnippelt...


Das letzte Mitglied war ich und damit ist meine Unbedeutsamkeit in dieser Band bewiesen. Auch meine Funktion war zweifelhaft. Ich war Rufer in der Wüste, die wir nie durchmaßen, Bierbeschaffer, wenn es Wein gab, ich predigte den Verzicht aller Laster, vor allem der der andern, den regelmäßigen Gang zum Frisör, Zähneputzen vor dem Auftritt, Entlausen und Bettwäschewechsel morgens und abends, ich gestattete Gruppensex nur einmal im Monat, Tonartwexel zweimal während des Abends und bestand auf regelmäßigen Diskussionen über die Kunst und ihre Nebenwirkungen. Die waren beträchtlich. Siehe oben.

 

 

 

 

 

 

 

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