WIE DER KÖNIG BEINAHE SEIN REICH VERLOR

 

Es war einmal, vor nicht allzu langer Zeit. Im Märchenland war einiges durcheinander gekommen: es gab falsche Prinzen, betrunkene Könige, verschuldete dazu. Prinzessinnen liefen davon, Hexen zogen in Städte, Nixen tanzten in Nachtbars... Aber hört selbst. Denn einiges blieb doch beim alten.

Alles begann mit der unsäglichen Fernverlobung der Prinzessin Janin im Königreich Gebirgsthal. Sie wurde dem Prinzen Flori vom Königreich im Nachbarthal angetraut. Sie hatten sich noch nicht einmal gesehen, weil die Täler so tief und die Berge so hoch waren, daß kaum einer der Bewohner je ins Nachbarreich kam. In den tiefen Wäldern, auf den Bergen trieb sich noch einiges an Unholden und Schattengestalten herum. Janin und Prinz Flori hatten sich noch nicht einmal einen Kuß gegeben. Was war das für eine Verlobung - ohne einen Kuß? Keine, zumindestens für Janin.

"Ich will ihn nicht haben", vertraute sie ihrer Dienerin Verona an.

"Vielleicht sieht er ganz gut aus."

"Und wie bitteschön soll ich das herausfinden?"

"Du gehst zu Hexe Adeleide und schaust ihn dir in ihrem Zauberspiegel an."

"Damit sie mich und den Prinz gleich mit verzaubert?"

"Prinzen sehen im allgemeinen ganz gut aus, wenn sie ihre Jagduniform anhaben."

"Du hast gut Reden. Dein Geliebter wohnt gleich neben dir."

"Immerklug ist aber nur Diener."

"Ich packe meine Schecke."

Und Janin packte ein. Alles, was sie besaß. Zweihundertzweiundzwanzig Kleider, sechsundsechzig Paar Schuhe, zweiundzwanzig Winterpelze, vierundvierzig Kissen.

"Wie willst du das alles unbemerkt aus dem Schloß bugsieren?"

"Du wirst mir doch etwas behilflich sein!?"

"Schon, aber das ist viel zu viel."

"Ich arme Prinzessin, muß ich mich nun von allem trennen?"

"Du wirst doch nicht so blöd sein, und für immer weggehn?"

"Na, wenn schon..."

"Ich gebe dir meinen Rucksack. Eine Flasche Brunnenwasser, ein Brot, ein Stück Schinken und einen Regenmantel, der nicht allzu schwer ist."

"Ich arme Prinzessin, nicht einmal eine Tasse Kaffee habe ich im Gepäck."

Die beiden hatten sich ganz schön in Rage geredet und achteten nicht auf die Horcher hinter der Tür, die zum Glück grade eingenickt waren.

"Aber meinen Hund Charlie nehme ich mit", rief sie entrüstet.

"Denk an den Beißkorb! Der König hat eine Beißkorbverordnung erlassen. Vorgestern."

"Aber die gilt nicht für mich. Ich bin seine Tochter."

"Für dich nicht, aber für seine abtrünnige Tochter schon."

"Und meinen vergoldeten Sattel für mein Pferd Pascal. Muß das auch einen Beißkorb tragen?"

"Nein. Aber Scheuklappen. Hier hast du meinen Mantel", rief Verona, "damit kommst du besser durch die Wachen".

Sie umarmten sich noch einmal wie zwei gute Freundinnen und küßten sich und sagten Lebewohl.

"Ich muß etwas wichtiges besorgen", rief sie den Wachen zu, "heute, wo Vollmond ist".

Die angetrunkenen Kerle bemerkten weder die verstellte Stimme Janins noch, daß an diesem Abend gar kein Vollmond war. Es war stockdunkel. Statt dessen riefen sie der verängstigten Prinzessin deftige Zoten & Blondinenwitze hinterher. Nur vom Zuhören wuchsen Janin drei große Eiterpickel und sie schwor sich, bei nächster Gelegenheit, sich ihre Haare färben zu lassen.

Der Ritt durch den Wald machte Janin Angst. Einmal stolperte ihr Pferd über einen Grasbüschel - in der Nacht sieht alles anders aus. Ein Grasbüschel wie ein Räuberkopf zum Beispiel.

"Ui, das ist noch mal gut gegangen," sagte sich Janin.

"Oh, ich spreche mit mir selbst. Naja, besser als gar nichts, hier in der Dunkelheit."

Dann rutsche ihr Pferd auf einen glitschigen Pilz aus.

"Ui, ich dachte schon, wir sind in eine Falle geraten," erschrak die Prinzessin.

Das Pferd wieherte und weiter gings. Würde nicht Charlie vorwegrennen, sie hätten den Weg nie gefunden. Als sie um eine Ecke bogen, fiel Janin vom Pferd, weil sie sich wegen eines langen Astes zu weit zur Seite beugte. Sie fiel genau auf einen Ameisenhaufen. Zum Glück schliefen die Insekten, jedoch die Prinzessin schrie und schüttelte sich.

"Mein Vater sollte einen Beißkorberlaß für Insekten verkünden," rief sie in die leere Nacht, "aber das hilft mir jetzt auch nicht. Gebissen ist gebissen."

Sie schüttelte sich vor Ekel - und so kam es, daß keine Ameisenvermißtenanzeige aufgegeben werden mußte.

In anderen Dingen erwies sich die Prinzessin als sehr geschickt: an drei Hexenhäusern schlich sie sich mit Hund und Pferd unbemerkt vorbei. Der Hund knurrte, das Pferd scheute. Sie hörten die Altenweiber schnarchen. Von der einen hing ihr langer Zinken aus dem Fenster heraus. Sie schnüffelte Menschenfleisch. So waren sie ziemlich weit gekommen und es war noch nicht einmal Morgen. Ihr Vater, der ihr an diesem Abend kein Gutenachtküßchen gab, hatte es noch nicht bemerkt. Und Verona schwieg wie ein Grab. Erst am Morgen wollte sie ein wildes Geschrei anfangen, damit keiner auf die Idee kam, daß sie eingeweiht war. Sie durchritt jetzt die Gebirgstäler und wurde von einem Steinschlag erfaßt.

"Ich arme Prinzessin," jammerte sie, "jetzt habe ich überall blaue Flecken. Wer wird sich, häßlich wie ich bin, in mich verlieben?"

In der Nähe eines Flusses bellte Charlie, das Pferd scheute, aber Janin hatte es eilig.

"Hier gibt es so viele Mücken und ich habe doch eine Mückenallergie..."

Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da hatte sie Pascal abgeworfen und die Prinzessin versank bis zum Hals in tiefem Schlamm. Nun wimmelte es von Mückenschwärmen und alle schwärmten auf Janin zu. Die schrie aus Leibeskräften und die Echos hallten von allen Seiten wider und so hat sie wohl im Morgengrauen der Bauernsohn Ingo gefunden.

"So ein armes Mädchen," flüsterte er.

Janin war vor Erschöpfung eingeschlafen. Ingo weckte sie zärtlich und versuchte sie herauszuholen, aber das war nicht einfach. Sie war so schwach, daß sie den von Ingo ihr hingehaltenen Ast nicht festhalten konnte.

"Mir bleibt nur eins: Dich an deinem Zopf herauszuziehen."

"Mach schon, mir ist kalt. Ich arme Prin...," jammerte Janin.

Ingo zog und Janin schrie auf: "Du tust mir weh. Ich armes Mädchen."

Der Bauernsohn ließ sie los und sie versank sofort wieder im Moor.

"Was machst du? Ich ertrinke... Hol mich sofort raus!"

"Das tut dir weh. Also bleib wo du bist." Er drehte sich um und lief weg.

"Bleib bei mir! Hol mich raus! Hast du das gehört!?"

"In meines Vaters Namen, warum eigentlich," fragte der Bauernsohn.

"In meines Vaters Namen, darum," polterte die Prinzessin heraus.

"Was gibst du mir dafür?"

"Ich soll dir..."

"Du bist ein aufgeblasenes, verwöhntes, zickiges, häßliches und dämliches Gör und wenn du jetzt noch mal rumschreist, lasse ich dich bis zur Mittagshitze schmoren. Ich muß nämlich eigentlich arbeiten."

"Ich gebe dir drei..."

"...Küsse. Wie alle in deinem Alter. Du scheinst nichts besseres zu haben."

Als sich Ingo über sie beugte und seine langen blonden Haare auf ihr Gesicht fielen, hatte sie plötzlich alles vergessen: den Schlamm, die Ameisen, den Ritt durch die Nacht, Kälte, Hunger, selbst des Vaters Schloß, auch die Mückenallergie. Sie spürte nur noch, wie es warm wurde, wie sie getragen wurde, wie sie in der Morgensonne durchs Tal ritten, wie sie in warmes Wasser glitt und wie sie unter einer Lammdecke Ruhe fand. Für wie viel Stunden oder Tage - das wußte sie nachher nicht mehr. Fern hörte sie Stimmen, als sie wach wurde. Es war an einem Abend. Die Leute lachten. Neben ihrem Bett stand ein Krug Milch. Offenbar gaben sie ihr zu trinken, während sie schlief. Sie roch den süßlichen Duft der weißen Flüssigkeit. Und trank den Krug bis zum letzten Tropfen aus. Als sie aufstand, bemerkte Janin, daß sie grobes Bauernleinen anhatte. Es stand ihr prächtig. Ihre blonden Haare glänzten, als sie die Stube betrat. Sie waren fein geflochten, wie es die Bauernmädchen tragen. Nur das Leinen kratzte auf ihrer Haut. Als sie die langen blonden Haare des Bauernburschen sah, vergaß sie das Kratzen, lief zu ihm hin und gab ihm drei Küsse.

"Ich lasse euch lieber allein. Komm Elisabeth," sagte die Bäuerin und ging mit Ingos Schwester hinaus.

"Du hast meinen Bräutigam geküßt", rief eine Schwarzhaarige, "hör mal, was fällt dir ein?"

Janin setzte sich und schwieg.

"Du schläfst mit ihm unter einem Dach und küßt ihn. Das ist zu viel."

Auch Ingo schwieg. Das Gesicht der Schwarzhaarigen wurde kreideweiß. Ihre Augen glühten kühl. Janin ängstigte sich plötzlich - das erste mal überhaupt. Ich hatte noch nie vor etwas solche Angst, dachte sie. Selbst der Ritt durch die Nacht - das alles war nur ein Kinderspiel. Und ihr fiel die Nase des Mädchens auf - sie hatte einen winzigen Haken, der größer zu werden schien.

"Nun gut, wir werden uns wohl besser vertragen," sagte die Eifersüchtige, "Ich bin Katja und Ingos Freundin."

"Ich dachte, du wärst seine Braut."

"Fast-Braut."

Aber auch jetzt war Janin nicht wohler. Als Katja ihre Hand drückte, durchzuckte es sie und sie zog sie zurück. Fast dachte Janin daran, zurückzukehren in die Arme ihres Vaters, der schon sehnsüchtig auf sie wartete - und sich vielleicht sogar die Fernhochzeit aus dem Kopf geschlagen hat...

Die Bäuerin kam wieder herein: "Ihr habt unserem Gast nichts angeboten? Was habt ihr die ganze Zeit gemacht?"

Sie stellte Ziegenmilch und Schafskäse auf den Tisch, dazu frische kühlgestellte Molke und Johanniskrauttee. Von einem großen runden Brot schnitt sie drei dicke Scheiben ab, die Janin tatsächlich auch aufaß. Obwohl sie hungrig war, hatte sie doch nicht die höfischen Tischsitten vergessen, ihre eleganten Gesten, wie sie die Speisen zum Mund führte, allein, wie sie auf dem Stuhl saß, fielen nicht nur der Bäuerin auf, auch Katja bemerkte es sofort. Diesmal schwieg sie, aber ihr Schweigen legte sich mit einer Eiseskälte über die Stube.

Am nächsten Tag war Katja verschwunden. Auch am übernächsten Tag tauchte sie nicht auf. Ingo fand es zwar merkwürdig, aber da er sich seine freie Zeit mit Janin vertrieb, die er aufgrund ihrer anmutigen Schweigsamkeit immer sympathischer fand, hatte er keine Zeit nachzudenken. Erst als am Tag darauf auch Janin verschwunden war, wurde der Bauernsohn stutzig.

Der König ließ seine Tochter inzwischen überall suchen. Sogar ins Nachbartal hatte er Späher ausgeschickt, denn ganz abwegig schien es ihm nicht, daß seine neugierige Tochter sich ihren Fern-Bräutigam aus der Nähe ansehen wollte. Er hatte noch andere Sorgen. Wenn seine Tochter, wie er vermutete, wirklich geflohen war, sah es um ihn und sein Reich nicht gut aus. Max Klein ließ ihm jeden zweiten Tag einen Boten schicken. Der König wußte, was der Bote wollte. Und ließ sich entschuldigen: Er sei auf der Jagd. Natürlich wußte Max Klein, daß um diese Jahreszeit keine Jagd stattfand. Und er wußte, daß er damit seine Forderungen und Zinsen in die Höhe treiben konnte. Und tat es. Max Klein war von Wuchs wie es sein Name sagte, außerdem außerordentlich willensstark und sparsam. Er trank nur einmal in der Woche Tee, ansonsten Brunnenwasser. Den einzigen Luxus, den er sich leistete, waren seine dicken Filterzigarren, die er sich aus Brasilien einschiffen ließ. Eine Frau hielt er sich nur aus dem Grunde nicht, weil er zu wissen meinte: Frauen sind teuer und verschleudern jegliches Vermögen. So ist auch der Vatikan zu Geld gekommen, witzelte er. Und wer ist reicher als der Papst?

Und noch eine Sorge hatte der König. Seine Leidenschaft war nicht etwa die Jagd, sondern das Spiel. Am Spieltisch konnte er sich jedoch in dieser Situation nicht blicken lassen. Max Klein hatte seine Späher dort. Da seine Tochter verschwunden war und er nicht wußte, war sie inzwischen bei ihrem Fern-Prinz oder irgendwo anders, konnte er auch keine Fern-Hochzeit ansetzen. Ohne Fern-Hochzeit jedoch sah er keine Möglichkeit, sich seiner Schulden zu entledigen. Der König war matt, schachmatt.

Aber nicht nur der König suchte Janin, auch Ingo folgte ihrer Spur. Und nicht nur Ingo, auch eine dritte Person hatte ihre Finger mit im Spiel. Durch eine List lockte sie Janin weg vom Bauernhaus. Sie schickte dem Mädchen schwarze Träume. Janin sah das Haus brennen. Indem sie floh, sagte ihr der Traum, rette sie Ingo und die Seinen vor dem Feuer, weil sie nach ihr suchen würden. Janin war in den Wald geflüchtet, verlor die Orientierung, fand aber die Lichtung, welche sie im Traum gesehen hatte und die Höhle in deren Nähe. Als sie die Höhle betrat, füllte sich der Raum mit einer saugenden Dunkelheit. Janin verlor das Bewußtsein, sie sank ein in ein tiefes Vergessen.

Ingo folgte einer hauchdünnen Spur, die sich an einer Gabelung verlor. Unter einer Esche saß der Bauernbursche und träumte. Über ihm zwitscherte eine Amsel. Sie sang ein langes Lied. Als Ingo aufstand, folgte er einen Pfad. Er glaubte, Janin vor sich zu sehen. Es zog ihn zu ihr. Es war mehr als Hilfsbereitschaft, es war etwas, was er bisher nicht kannte. Er kam zur Lichtung. Er suchte die Höhle. Er spürte nur ein unbeschreibliches Dunkel. Wieder wurde er müde, aber er kämpfte gegen den Schlaf. Er wußte sich Janin nahe. Etwas wollte sie trennen. Als er den von knorrigen Bäumen versperrten Höhleneingang fand und mit seiner Axt freischlagen wollte, schlug das Holz Funken. Durch ein Fünkchen Licht sah er das Leinenkleid Janins. Er spürte eine Sehnsucht, die er bisher nicht gekannt hatte. Alles wollte er tun, sie hier herauszuholen. Er mühte sich und alles war vergebens. Erst als Regen fiel, als wäre der Himmel traurig über sein Mißgeschick, bemerkte er, wie die alten Bäume Blätter trieben. Die steinigen Bäume wurden lebendig und bevor er seine Axt hob, um sie zu fällen, gaben sie den Eingang frei.

Er trug Janin auf die Lichtung, aber das Mädchen schlief. Er holte Wasser, um es ihr zu trinken zu geben und um sie zu wecken. Kaum vernahm er ihren Atem. So kam die Nacht. Er schlang seine Arme um sie, als fürchtete er, irgendeine Macht könne sie ihn entreißen. Er schlief nicht, er wartete auf den Morgen. Als die Sonne ihre ersten Strahlen auf die Erde schickte und die Amsel mit ihrem Lied begann, regte sich Janin, streckte sich, öffnete ihre Lider. Der Bauernsohn hielt sie umschlungen. Er selbst schlief, als wäre der Schlaf von Janin auf ihn übergegangen. Janin, die sich an nichts mehr erinnerte, wer sie war, wer er war, wie alt sie war, wo sie früher gelebt hatte, suchte eine Quelle, um Wasser für ihn zu holen, ihn zu wecken. Aber der Junge schlief und nur manchmal, für winzige Momente, durchfuhr ihn eine Angst, immer dann, wenn sich das Mädchen von ihm entfernte. Sie spürte es und blieb bei ihm.

Auch die Soldaten des Königs fanden die Lichtung. Nicht etwa, weil sie einen Traum gehabt hätten oder weil ihr Spürsinn so gut gewesen wäre. Beim König wurde eine in weiße Schleier gehüllte geheimnisvolle Frau vorstellig, die zu wissen vorgab, wo sich die gesuchte Prinzessin befand.

"Was verlangst du für deine Auskunft", erkundigte sich der König.

"Es wird Euch nichts kosten. Laßt mich mit dem Burschen, der neben ihr liegt, allein und geht so schnell als möglich Eures Weges."

So kam Janin zurück ins Schloß. Sie erinnerte sich weder an ihren Vater noch an die Fern-Verlobung. Der König meinte, sie wolle ihn zum Narren halten, wurde ungehalten, schrie sie an, aber es nützte nichts. Er ließ sie in ihr Zimmer sperren. Erst wenn sie ihr Gedächtnis wiedergefunden hätte, dürfe sie es verlassen.

Inzwischen kam Max Klein ins Schloß. Ihn konnte der König nicht abweisen.

"Ein schönes Land habt Ihr. Wirklich, sehr schön."

"Zur Zeit habe ich Sorgen. Ich kann mich nicht so recht daran erfreuen."

"Und sehr groß ist es."

"Ich habe wenig Zeit, um mich darum zu kümmern."

"Vielleicht zu groß für einen Mann."

"Zum Glück habe ich zwei Töchter."

"Und ein schönes Schloß habt Ihr."

"Leider sind die Dächer undicht, die Farbe blättert ab, die Ahnengalerie müßte renoviert werden, aber wie ihr euch denken könnt, fehlen mir die Mittel."

"Sehr groß ist es."

"Viele der Kammern stehen leer."

"Vieleicht etwas zu groß für einen Mann."

"Zum Glück habe ich zwei Töchter."

"Wie Ihr euch sicher erinnern könnt..."

"... habt ihr mir schon mehrfach unter die Arme gegriffen."

"Und bin durchaus bereit, weiterhin großzügig zu handeln, wenn..."

"Was?"

"Euer Land ist so weitläufig, daß selbst Ihr, dem es gehört, nicht einmal alle Grenzen abgeritten seid. Was würde es Euch ausmachen..."

"Ihr meint..."

"Ich meine, daß Land nur dem nützt, der auch etwas damit..."

"Ich solle es an euch..."

"Nennen wir es verpachten... Und euer Schloß..."

"Das Land, das Schloß, vielleicht auch noch meine..."

"Nicht die Mädchen, Euren Sohn."

"Wir haben bisher keinen..."

"Bisher."

"Noch nicht geboren und schon verkuppelt. Habt ihr..."

"...eine Tochter. Ein kluges, gebildetes und hübsches Kind."

"Das ihr bisher geheim hieltet."

"Wem gehts was an? Sie wäre nur um weniges älter als Er. Sie versteht umzugehen mit jungen Herren. Weiß ein wenig zu gut, was sie will - versteht, sie ist ohne Mutter aufgewachsen. Daher auch nicht verwöhnt. Und bei ihr wird die Kasse stimmen."

"Aufgewachsen bei wem?"

"Bei ihrer Großmutter. Eine überaus weise Frau."

"Wo?"

"Im Wald. Sie kennt jeden Stein, jeden Baum. Jedes Kraut, jede Kreatur."

"Vielleicht etwas zu wißbegierig."

"Im gemütlichen Schloß wird sich das ändern."

"Einen Monat Zeit zum Bedenken."

"So lang? Eine Woche - was solls mehr."

Max Klein empfahl sich.

Seine Tochter hatte ihr Gedächtnis nicht wiedergefunden. Der Reichsarzt machte heiße Umschläge, nachts kalte, er verschrieb ihr Bäder, ließ sie zur Ader. Die letzte Chance, meinte er, sei der Vollmond. Das Nachtlicht hat schon einiges wieder zum Vorschein gebracht. Nach der Woche bat der König den kleinen Max um eine zweite, in der war Vollmond.

Auch Katja erwartete den Vollmond. Der Bauernsohn hatte ebenfalls sein Gedächtnis verloren. Obwohl sich das Mädchen den ganzen Tag um ihn kümmerte, spürte er, daß ihm etwas fehlte. Es zog ihn weg von ihr. Bei Vollmond, wußte sie, würde er seine Erinnerung wiederfinden und sie ihn vollends verlieren, wenn sie nicht... Und sie beschloß zu handeln. Lange hatte sie die Hilfe ihres Vaters nicht mehr in Anspruch genommen, denn sie haßte ihn. Nicht, weil er ihre Mutter verstieß und in Armut umkommen ließ. Sie erinnerte sich an die elend einsamen Jahre im Wald bei der blutleeren Frau, die ihr zwar einiges Nützliche beibrachte, aber die ihr bis heute unheimlich blieb. Als sie sich trafen, hatten beide ein Ziel: Ihr Vater wollte Geld. Sie wollte ihre Konkurrentin loswerden. Der Alte wußte, daß sich der König nicht erpressen lassen würde. Also ließ er sich hinreißen, dessen Tochter entführen zu lassen. Nur mit einem hatten beide nicht gerechnet. Gendarm Trillerpfeife tat die Prinzessin leid. Er spürte, daß sie litt. Nicht nur, weil sie im Zimmer eingesperrt war. Er sah ihre Augen, als er sie bewachen mußte, er spürte die dunkle Sehnsucht. Er wollte sie aufheitern. Es gelang ihm nicht. Von Tag zu Tag wurde das Mädchen trauriger. Trillerpfeife, ein pflichtbewußter Soldat, beobachtete, wie sie von Tag zu Tag weniger wurde. Wenigstens in den Garten ließ er sie gehen, blieb immer in der Nähe. So bemerkte er die Entführung. Verfolgte die Spuren. Fand sie nahe einer der Lichtungen. In einem Käfig aus Dunkelheit. Er berichtete es dem König.

Max Klein war schnell gefunden. Und verhaftet. Nur seine Tochter nicht. Nicht nur Trillerpfeife, auch Bauer Fridolin suchte. Seinem Sohn. Die Bäuerin hatte ihm noch folgendes mit auf den Weg gegeben: "Das Mädchen, die Katja, wußtest du, wo sie gewohnt hat? Auch nicht. Mir ist einmal beim Pilzesuchen aufgefallen, wie sie aus dem Busch kam. Sie erschrak, als sie mich sah. Ich wunderte mich erst, maß dem aber wenig Bedeutung zu. Es war in Richtung der drei Lichtungen, wo die verlassenen Häuser stehen. Kaum jemand wagt sich dorthin. Und wo das Mädchen ist, wird der Junge sein."

Fridolin pirschte sich an und fand sie dort. Aber was er aus einem Busch beobachtete, war ihm so seltsam, daß er sich nicht zu erkennen gab. Katja sprach mit Ingos Stimme und Ingo mit Katjas. Wer war wer?

"Wenn du mich schon nicht liebst, dann wirst du sie auch nicht bekommen."

"Und du meinst, sie wird es nie bemerken."

"Wenn schon, aber wenigstens einmal im Leben möchte ich erfahren, wie es ist, wenn ich wirklich geliebt werde."

"Es wird dich zerreißen in deiner Kälte."

"Wenn ich sterbe, stirbt sie auch. Aus Kummer um dich."

"Und du glaubst, ich werde schweigen."

"Hinter dir sind sie schon her. Und sie werden dir kein Wort glauben. Gib mir deine Stimme."

Der Vater hatte genug gehört und es grauste ihm. Als er zurückkam, erzählte er es seiner Frau.

"Du mußt zum König. Das Mädchen, das wir beherbergten, war seine Tochter."

"Woher weißt du das?"

"Ich wußte es von Anfang an."

"Sie suchten überall nach ihr. Anscheinend ist sie gefunden. Gefangen in einem Käfig aus Dunkelheit. Du hast den Schlüssel zum Zauber gefunden."

Der Bauer berichtete es dem König. Zum Schein fingen sie die falsche Katja. Zum Schein glaubten sie ihr nicht. Zum Schein wurde sie eingesperrt. Sie beobachteten, wie der falsche Ingo Janin aus dem Dunkel befreite. Sie beobachteten, wie sie ihn umarmte. Sie beobachteten, wie Ingo die Umarmungen genoß, die Küsse, wie ihm die Tränen kamen, wie er blaß wurde, wie er fiel. Wie sich seine Stimme veränderte. Wie Janin verzweifelte. Wie es ihr das Herz fast zerbrach, als sie neben ihm saß und der, den sie für ihren Geliebten hielt, starb. Seine letzten Worte sprach er mit einer anderen Stimme, die Janin bekannt vorgekommen wäre, hätte sie nicht diesen Schmerz gespürt. Im gleichen Moment löste sich der Zauber und aus Katja wurde Ingo und aus Ingo wurde Katja. Ingo trat mit den anderen, dem König, dem Bauern, mit Trillerpfeife und dem Diener Immerklug aus dem Busch. Vor der erstaunten Janin lag die tote Katja. Janin war durcheinander.

"Geliebter, wo bist du? Eben warst du..."

"Hier bin ich - und für immer", rief ihr der Entgegenlaufende zu.

Natürlich wurde Hochzeit gefeiert.

"Es wurde auch allerhöchste Zeit," freute sich die Königin Jasmin, "daß der Richtige gefunden ist. Du immer mit deinen Spielschulden", wagte sie den König Oberhaupt zu kritisieren.

"Hier bestimme..."

"... heute ich. Alle Pokerkarten im Lande werden verbrannt. Das ist vernünftiger als dein Beißkorberlaß."

Es wurde ein berauschendes Fest. Der Hofstaat des Nachbarkönigreiches wurde eingeladen und da der Bergzauber gebrochen war, schien das Land nun plötzlich gleich um die Ecke zu liegen. Natürlich waren auch Bauer Fridolin mit Frau und Tochter Elisabeth anwesend, so wie überhaupt alle Bauern, Bienenzüchter, Waldläufer, Jäger, Musikanten, Wanderschauspieler, Wahrsager, Philosophen, Dichter und Sänger, Wetterpropheten, Wasserfinder, Erfinder und Verlierer. Gendarm Trillerpfeife traute das Paar. Als sie die Ringe tauschten und König Oberhaupt neben seinem Schwager Fridolin und die Königin neben Schwägerin Anna stand, der König in Seide, der Bauer in Leinen, haben alle die Kraft der Liebe bewundert, die alle Grenzen überwand. Die Königinmutter schluchzte: "Daß ich diesen Tag erleben durfte..."

Aber nun geschah etwas wirklich eigenartiges. Immerklug trat mit Verona vor Trillerpfeife. Aus ihrem Ärmel zogen sie zwei goldene Ringe. Trillerpfeife traute auch dieses Paar und die Königinmutter schluchzte: "In unserem Schloß zwei Hochzeiten auf einmal. Daß ich das erleben durfte..."

Nach dieser Zeremonie trat ein fremder, gut gekleideter junger Herr auf das Bauernmädchen Elisabeth zu und sprach: "Ich habe gesehen, wie glücklich Ihr bei der Hochzeit Eures werten Bruders gewesen seid. Ich wurde seinerzeit von meinem Vater fernverlobt und seitdem bin ich unglücklich. Ich löse hiermit diese Bindung und bitte Euch, meine Frau zu werden."

Trillerpfeife traute auch dieses Paar und die Königinmutter schluchzte: "So viel Ehre für unser Haus. Daß ich das erleben durfte..."

Ihr werdet es mir nicht glauben, aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Noch nicht ganz. Der Bruder des eben verheirateten Prinzen Flori schien für sich an diesem Tag, als wäre Liebe eine ansteckende Krankheit, auch die Richtige gefunden zu haben: Prinzessin Susann.

Trillerpfeife traute auch dieses Paar und die Königinmutter schluchzte: "Alle meine Kinder auf einmal. Daß ich das erleben... Das halte ich nicht..."

Und sie fiel erst einmal für ein Stündchen in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kam und alle tanzten und sangen, saß der König neben ihr, hielt ihr die Hand und murmelte: "Ich werde nie wieder spielen, wenn du nur bald auf..."

"Ich werds mir merken," waren ihre ersten Worte. Nüchtern fügte sie hinzu: "Wenigstens eine standesgemäße Hochzeit."

Was mit Max Klein geschah, wollt ihr wissen? Der König erließ eine Amnestie und er kam frei. Noch zur Hochzeit. Er saß in einer Ecke, trank nicht, aß nicht. Was bedeutete ihm das Leben noch, jetzt, da er niemanden mehr hatte, nicht einmal eine Tochter? Er spendete sein Geld und ließ Waisenhäuser bauen. Nur lebte darin nicht ein einziges Kind. Waisenkinder - das war seine Erfindung. Es war eben doch noch eine ganz andere Zeit.

Eins hätte ich beinahe vergessen: Zur Hochzeit ließ Janin allen Wachen die Haare blond färben. Und ihr Vater mußte eine Blondinenwitzerlaß verordnen, auch wenn er nicht verstand, wieso.

 

Agnieszka Haupe und Dieter Kalka zusammen mit einer Projektgruppe der Brüder-Grimm-Schule Leipzig

11.07.2000