ROSALINDES SCHATZKARTE

 

Im sächsischen Räuberwald ganz in der Nähe der Mulde, wo riesengroße Krokodile schwimmen, wohnen genau dreimalsechspluseins Räuber und ein Mädchen in der 60-Land-Höhle. Die Höhle ist ziemlich groß, besteht aus zehn Zimmern, aber die Räuber bevorzugen den großen Saal, wo das Feuer brennt und dort schlafen sie auch alle zusammen auf einem Haufen, besser gesagt, sie fallen um, wenn sie genug getrunken, gesungen oder sich die Köpfe eingeschlagen haben. Nur die Häuptlingstochter Rosalinde übernachtet in einem richtigen Bett. Mit Federn, Daunen und dicken Decken. Während die Räuber über- und untereinander liegen, sozusagen als Zudecke jemand über sich und als Matratze einen anderen unter sich liegen haben und sich gegenseitig ins Ohr schnarchen, hat Rosalinde jede Nacht seidene Träume. Davon mag sich auch ihr ausgeprägter Charakter, ihre Schönheit und ihr zartes Wesen herausgebildet haben. Aber die Räuber, so derb und ungeschlacht sie auch alle sind, alle lieben das Mädchen und sie kann mit den ausgefallendsten Einfällen kommen, meist machen die Räuber dann doch, was das Mädchen will.

Zu allererst ihr Vater, der zwar immer so tut, als würde er nie eine Extrawurst braten. Er ist ein teuflischer Kerl und heißt natürlich so: Teufelsfritze. In der rechten Hand hält er eine Schnippschleuder, in der linken ein Messer. Auf der Schulter trägt er einen Raketenwerfer. Er weiß zwar nicht, wie er ihn bedienen soll, aber was man hat, das hat man. Zumal er Räuberhauptmann ist. Seine Haare färbt er der besseren Tarnung wegen grün. Fanden erst alle komisch, aber dann zeigte sich der Effekt seiner Erfindung: Im Wald könnte man ihn nicht vom Laub unterscheiden, hätte er nicht diese auffällig rote Knubbelnase. Daher gibt er sich Mühe, wenns ums Räubern geht, sein Herz stillstehen zu lassen: da wird die Nase blaß. Natürlich trägt er wie alle guten Räuber eine Augenklappe, obwohl sein zweites Auge nicht zermatscht ist.

"Zu einem Räuberhäuptling", meinte eines Tages Rosalinde, "gehört eine Augenklappe dazu."

Das fanden nach reiflichen Überlegungen die anderen Räuber auch. Und Teufelsfritze nickte am Ende ergeben und setzte sich eine schwarze, fürchterlich aussehende Augenklappe auf.

"Jetzt siehst du viel besser aus", meinte seine Tochter.

"Wirklich", lachte er und alle jubelten ihm zu und sangen.

Da brüllte Teufelsfritze wie ein Bär durch den Räuberwald und im Umkreis von vierundvierzig Metern fielen alle Tannenzapfen vom Baum. Deswegen konnten die Eichhörnchen die Räuber nicht leiden und bewarfen sie nachts mit Tannenzapfen. Nieselprim dachte, sein Nachbar Langbart habe ihn geschlagen. Die beiden prügelten sich und dann kam Knoblauchfritze, der Stärkste von allen und beschoß sie mit seinem Maschinengewehr. Aber in den Patronen war nur Knoblauch drin und seitdem stinkt die Höhle. Seitdem haben die Räuber keine Flöhe mehr. Paulchen mit seiner Pinockionase und den Pickeln findet das schade: "Ohne Haustiere ist das langweilig." Jedenfalls, sie prügelten sich dann die ganze Nacht und verschliefen den Tag und an Räubern war dann in der nächsten Woche nicht zu denken, weil sie ihre gebrochenen Rippen und blauen Augen auskurieren mußten.

Nachdem Teufelsfritze so brüllte, tanzte er auf seinem Holzbein ums Räuberfeuer. Obwohl er ein Holzbein hat, ist er dennoch schneller als all die anderen Räuber seiner Bande. Sogar schneller als der Struwelpeter. Der ist wirklich sehr schnell. Wie der Wind. Aber meist rennt er gegen einen Baum. Weil ihm die Haare so weit ins Gesicht gewachsen sind, daß er fast nichts mehr sieht.

Aber gehen wir mal ganz nah ran, in die Räuberhöhle rein. Habt keine Angst, die sind gerade so mit sich beschäftigt, daß sie uns nicht bemerken werden, wenn wir leise sind. Also, da sitzen sie: Seht ihr Pampan mit seiner Keule und den Fleischerhaken anstatt eines Daumens neben dem dicken Peppel, der so angeschwollene Augen hat. Peppel muß jeden Morgen zuerst aufstehen und das Feuer anpusten. Das ist eine zweifache Strafe: nämlich früh aufstehen, das mögen die Räuber gar nicht. Bevor die Sonne nicht ganz oben steht und die Räuberhöhle vor Hitze kocht und alle in ihrem Schweiß schwimmen, regt sich dort gar nichts. Nur Peppel steht auf, pustet und pustet und von der Asche und dem dicken Qualm hat er angeschwollene Augen. Dafür bekommt er doppelte Ration - natürlich sieht man ihm das an. Neben Peppel, das ist der schwarze Bruno mit einer echten Schwarzpulverpistole. Neben ihm, der ist gefährlich und so heißt er auch: Mörderich. Seit vielen Jahren schon trägt er eine Panzerfaust mit sich herum, weil ein modernen Räuber auch moderne Waffen braucht, sagt er. Aber jedesmal, wenn er sie abschießen soll, kommen ihm die Tränen, weil er Angst hat, damit jemanden zu treffen. Der zu seiner Rechten ist harmlos. Er heißt Fauli und schläft jeden Tag bis sechzehn Uhr. Da auch die Räuber einen geregelten Arbeitstag haben und die gewerkschaftlich ausgehandelte Arbeitszeit genau sechzehn Uhr endet, ist Fauli noch nie mit auf einem Überfall gewesen. Er ist halb fröhlich und halb traurig. Fröhlich, weil er so ganz und gar nichts machen muß und es ihm bei den Räubern ausgesprochen gut gefällt und traurig, weil er glaubt, daß er eine ganze Menge in seinem Leben verpaßt hat.

Neben ihm und dem nächsten ist eine Lücke. Das ist Stinkepeter. Er duftet nicht nur nach Knoblauch, er hat auch seine Socken schon vierundvierzig Jahre lang nicht gewechselt. Neben ihm die beiden möchte ich noch vorstellen, aber dann hören wir mal zu, was sich gerade ereignet. Der eine ist ein ganz seltsamer Kauz. Keiner weiß, wer Vater und Mutter sind. Manche glauben, er wäre auf dem Mond geboren. So heißt er auch: Manimaneme. Anstatt zweier Augen hat er Glühbirnen. Darüber wachsen ihm grüne Augenbrauen, die eigentlich Augengrüen heißen müßten. Er hat richtige Stachelbeerwaden, an denen Stachelbeeren, Rosalindes Lieblingsspeise, wachsen und schleppt immer zwei Spaten mit sich herum, um nach Schätzen zu graben. Ein echter Goldsucher ist er, der häufig etwas findet, das er unter seiner Zunge versteckt. Der zweite ist Krabbelbabbel. Er ist eine Mischung aus Mensch und Ziegenbock und hat viereckige Hörner auf seinem Kopf. Dazu ist er an allen möglichen Stellen tätowiert - aber das später.

Teufelsfritze, der gerade seinen Jubeltanz wegen seiner fürchterlich schwarzen Augenklappe beendet, setzt sich und Rosalinde mäkelt wieder am Frühstück herum: "Iiiiehh, Hasenbraten, schon wieder Hasenbraten! Könnt ihr denn nicht mal ein ordentliches Frühstück besorgen, ihr einfallslosen Räuber!"

"Töchterlein, mein liebes..."

"Ich bin nicht dein liebes..."

"Töcherlein, mein böses..."

"Böse bin ich schon gar nicht. Ich lege nur Wert auf einen ausgewogenen Speiseplan!"

"Hör mal zu, Töchterlein, bis wir reich sind, mußt du dich schon noch gedulden, dann..."

"Ich will aber..."

Alle Räuber schauen auf ihren gestrengen Räuberhauptmann, der ein geplagter Pappi ist und noch nie einen Wunsch seiner Tocher..., aber sehen wir, was passiert:

"Was möchtest du? Bären, Hirsche, Eichhörnchen..."

"Bist du verrückt? Eichhörnchen sind meine Lieblingstiere!"

"Vögel?"

"Dann höre ich nur noch euer Gegröle und Geschnarche, und wer singt, bittschön, hier im finstren Wald?"

"Die Frösche."

"Davon krieg ich Ohrweh!"

"Karpfen, Forellen, Hechte..."

"Soll ich an einer Gräte erstick..."

"Gutgut, Töchterlein, mein einziges. Bergziegen?"

"Hast du einen Geschmack, Pappa!"

"Ddarf i-ich aaaa...auch was sssagen?", versucht Rippenbiest, immerhin der Räuberhauptmannsstellvertreter, einen Vorschlag unterzubringen.

"Halt die Klappe. Wenn ich meine Tochter erziehe, mischt sich keiner ein!"

"Was wolltest du sagen," fragt Rosalinde Rippenbiest.

Der mordsgefährliche Räuber, dünn wie ein Bindfaden, weil er an chronischem Durchfall leidet und zweimännerlang, weil er als Kind unter eine Dampfwalze gekommen war, flüstert. Aber nicht nur Rosalinde, die anderen Räuber verstehen es auch.

"Nein, bitte-bitte nicht! Ich hab Angst", jammert der blonde Stoffelkopf. Er ist einer der harmlosen und seine Aufgabe ist es, die zerrissenen Schuhe und durchgefurzten Hosen zu flicken.

Seppelschatz, der alles verkehrt macht, was man falsch machen kann, ruft: "Das meinst du nicht im Ernst!"

"Doch! Rippenbiest hat recht. Ich will Wildschweinbraten."

Da glänzen die beiden Goldzähne des Räuberhauptmannstellvertreters und die Flammen spiegeln sich darin. Doch der Schatzmeister hört nicht auf, alle daran zu erinnern, daß bisher alle Wildschweinjagden in einem fürchterlichen Fiasko endeten. Nicht zuletzt hatte Teufelsfritz sein Bein nicht etwa bei einem Kutschenraub verloren oder weil er vom Baum gefallen wäre, sondern ein Wildschwein hatte es ihm abgebissen. Das traf ihn hart in sein Räuberhauptmannsehre.

"Soll ich mein zweites Bein auch noch...", fragt er sein Töchterchen.

"Bist du nun mein Pappa und hast mich über alles lieb..."

"Auf zur Wildschweinjagd!"

Allen voran Teufelsfritz mit seinem Messer in der Hand und der Schnippschleuder in der anderen. Die restlichen Dreimalsechs trotten im Gänsemarsch hinterdrein. Aber nicht, weil sie Angst haben, so wie ihr Anführer, von dem einige der Räuber behaupten, er wäre deswegen so stark und furchtlos, weil er vor jeder Aktion erst mal in die Hose macht. Was natürlich niemand glaubt. Der Wald ist einfach so dicht, daß sie sich regelrecht jeden Meter durchkämpfen, Äste abschlagen oder abbrechen müssen. Dann fallen sie übereinander und beschimpfen sich.

"Bei dem Lärm hören uns die Wildschweine kilometerweit", meckert Bruno.

"Und Stinkepeter riechen sie lichtjahreweit", ergänzt Nieselprim und niest so kräftig, daß sie alle vor Schreck in die Büsche springen.

"Und dich", will Peppel ergänzen, "hört man...", aber da raschelt es im Busch und ein Riesenwildschwein kommt herausgerannt.

"Hilfe!!! Ein Windschwein", brüllt Kunibert und seine roten Haare stehen ihm aufrecht.

"Fangt es ein", befiehlt Teufelsfritze.

"Ich sehe nichts", flucht Struwelpeter.

Die Glühbirnen von Manemaneme leuchten auf. "Ists so besser?"

Krabbelbabbels Hörner wachsen und stehen nach außen. Er nimmt Anlauf, das Wildschwein aufzuspießen. Stinkepeter ist schneller. Er stürzt sich auf das fette Tier, krallt sich ins Fell. Das Schwein rennt mit ihm durch den Wald und will ihn an einem Baum zerquetschen. Plötzlich quieckt es laut und fällt um. Stinkepeter springt ab, denn ansonsten würde es ihn zerquetschen.

"Wie hast du das gemacht?", staunt Rüsselbiest und schnüffelt mit seiner Elefantengurke am Wildschwein herum. Einen Moment später liegt er daneben.

"Ich habe ihm meine Socken an die Nase gehalten."

Kunibert stehen die roten Haare zu Berge: "Was hast du mit Rüsselbiest gemacht?"

"Wiederbelebungsversuche. Mund-zu-Mundbeantmung", befiehlt Teufelsfritze.

"Iiihe, aber ich mache das nicht", ekelt sich Nieselprim und seine gelben Haar werden vor Schreck weiß.

"Knoblauchfritze, schieß ihm 'ne Ladung rein." Er ballert los.

Rüsselbiest regt sich langsam. Durch das Tohuwabohu hat er seinen Rüssel verknotet. Durch die Knoblauchladung kitzelt es ihm. Das bläst den Rüssel auf wie einen Luftballon.

"Entknotet seinen Rüssel, sonst platzt er", ruft der Räuberhäuptling.

Rippenbiest macht sich mit Langbart daran. Als die Luft entweicht, zerfleddert sie Langbarts schönen schwarzen Bart und Rippenbiest, leicht wie eine Feder, wird auf einen hohe Eiche gepustet.

Jedenfalls ist diese Windschweinjagd sehr erfolgreich. Sie kommen zurück, berichten von ihren Abenteuern. Als Rosalinde das riesige Wildschwein sieht, packt sie das Mitleid: "Seht ihr nicht? Das ist eine Mutti. Die hat bestimmt Kinder. Denen geht es jetzt wie mir. Ich habe auch keine Mutti. Ich jedenfalls esse heute Pilzsuppe."

Den Räubern tropft schon der Zahn. Peppel pustet inzwischen ein ordentliches Feuer an. Darin sollte es braten. Doch die Räuber lassen es frei. Knoblauchfritze erschreckt es nochmal mit seiner Knoblauchmaschinenpistole, damit es nicht wiederkommt. So irrt die Riesenwildschweinmutti jetzt als Knoblauchwildsau durch den Räuberwald.

Aber immerhin, das ist doch mal ein richtiges Abenteuer. Sie haben zum allerersten mal ein Wildschwein gefangen. Sie mußten es zwar wieder freilassen, aber dennoch sind sie mächtig stolz auf sich und gönnen sich am nächsten Tag erst mal Freizeit.

Ihr Baumwächter Rüsselbiest sieht mit seinen scharfen Adleraugen, nachdem sein Rüssel so wunderbar geliftet ist, doppelt so weit. So entdeckt er die Königskutsche. Darin fahren ein schöner König mit einer wunderschönen Königin. Er klettert von Ast zu Ast, nähert sich der Kutsche geschickt, ohne daß es bemerkt wird. Er springt auf die Kutsche und raubt sie aus. Dem König nimmt er die Krone und seine Königskleider. Der wunderschöne König fährt mit der wunderschönen Königin ohne Krone und Kleider in der Kutsche weiter. Wahrscheinlich brauchen sie es nicht einmal, um schön zu sein.

Rüsselbiest kehrt mit seiner Beute in die Höhle zurück. Die anderen werden grad von der Mittagsruhe wach.

"Sehr mal, was ich habe!"

"Wie der aussieht, guckt mal," ruft der zerzauselte Langbart.

"Der sieht noch komischer aus als Langbart", ruft Nieselprim und niest vergnüglich.

"Hört auf zu lachen! Ich bin jetzt König."

"Haha, wir haben einen König", prustet Peppel und sein Bauch schwabbelt.

Struwelpeter schiebt sich die Haare aus dem Gesicht und dann lacht die ganze Räuberbande so laut, daß im Umkreis von 444 Metern alle Tannenzapfen von den Bäumen fallen.

"Ihr faule Bagage, sehr ihr nicht: Hier Truhen, Golddukaten..."

"Und ein König", spottet Teufelsfritz.

"Du hast es so gewollt. Ich fordere dich heraus!"

Sofort ist es still. Noch keiner hatte bisher Teufelsfritz zum Kampf herausgefordert.

"Laß sein, Rüsselbiest. Du hast das ja ganz gut gemacht, obwohl es deine erste erwähnenswerte Tat ist."

"Ich kann es nicht leiden, wenn über mich gelacht wird."

"Keiner wird mehr über dich lachen. Zieh nur die Uniform aus."

Alles lacht.

"Das ist keine Uniform! Das ist die Kleidung des Königs höchstpersönlich. Und der sie anhat, der ist jetzt König. Versteht ihr?"

Es brodelt unter den Räubern und alle wollen wieder lachen, aber Teufelsfritz winkt ab.

"In Ordnung. Morgen machen wir Fasching. Du bist König und wir wählen das beste Kostüm aus. Sicher wirst du den Preis erhalten."

"Ich bin König!", brüllt Rüsselbiest, "Ein für allemal: Ich bin König!"

Zum Bedauern der Räuber fällt der Fasching aus. Und obwohl sie Ringkämpfe um alles in der Welt am meisten lieben, haben sie keine Lust am Zuschauen. Sie wissen, wer gewinnen wird. Natürlich unterliegt Rüsselbiest schon in der zweiten Runde. Obwohl er es beinahe geschafft hat, dem Räuberhauptmann mit seinem Rüssel die Kehle abzuschnüren. Aber der Hauptmann macht einen Knoten in den Rüssel, kitzelt den Herausforderer und alles wiederholt sich wie bei der Wildschweinjagd.

"Unter euch schmutzigen Kerlen gab es wenigstens einen, der sich ordentlich gekleidet hat. Wenn auch nur für einen Tag", schimpft Rosalinde.

"Hauptsache, ich habe meine Krone noch", tröstet sie Rüsselbiest und die ganze Räuberbande lacht.

Und weil an diesem Tag irgendwie nicht alles so läuft, wie es hätte laufen sollen, beschließen die Räuber, am Abend ein Dorf zu überfallen. Rosalinde kann es nicht leiden, wenn sie den Bauern Schaden zufügen. Sie warnt den Bürgermeister. Die Räuber werden mit Knüppeln empfangen. Teufelsfritze flucht: "Diese Zivilbevölkerung hat keinen Respekt mehr vor einem ordentlichen Räuber". Dann ziehen sie mit blauen Flecken ab.

"Was habt ihr denn schon wieder angestellt", fragt Rosalinde besorgt.

"Die haben uns verprügelt", jammert Mörderich.

"Wenn ihr mir versprecht, daß ihr niemals mehr Dörfer ausraubt, auch nicht im Traum nur daran denkt, bekommt ihr meine Schatzkarte", sagt Rosalinde, die in ihrem Mitleid ganz unvorsichtig geworden ist.

"Natürlich, natürlich. Wir hätten schon seit Jahren die Dörfer verschont, hättest du uns die Schatzkarte gegeben. Außerdem machen wir das nur aus Langeweile", freut sich Teufelsfritz.

Aber sie belügen die Tochter. Rosalinde ist auch nicht dumm - sie gibt ihnen erst mal eine andere Karte, zeichnet falsche Wege ein und wo die Kreuze sind, hausen gefährliche Tiere. So werden die Räuber von Krokodilen angegriffen und jeder von ihnen schreit nach Mammi und Pappi. Irgendwie, als sie nach drei Tagen wieder zu sich kommen, merken sie, daß etwas nicht stimmt.

"Was habt ihr wieder angestellt", ruft Rosalinde vor Schreck, denn sie sieht, daß sie alle ganz zerzauselt sind.

"Und du? Undankbare Tochter! Was hast du uns für eine Karte gegeben", brüllt Teufelsfritz. Im Umkreis von vierkommavier Kilometern fallen alle Tannenzapfen von den Bäumen.

"Du sagst uns jetzt, wo der Schatz ist, oder du machst eine Woche lang den Abwasch", schreit der kreideweiß gewordene Seppelschatz.

"Wo die Schätze sind? Wer ist denn Schatzmeister? Wir haben leider einen Schatzmeister mit einem Gedächtnis, löchrig wie ein Schweizer Käse. Du hast vierhundertvierundvierzig Schätze verbuddelt und weißt von keinem mehr, wo er liegt. Außerdem, den Abwasch mache ich sowieso", lacht das Kind.

"Ich mache für dich den Abwasch. Gib dafür die Karte", bittet Manimaneme und seine beiden Augen blinken verliebt.

"Ach, das mache ich doch ganz gern. Außerdem würdest du viel zu schnell rosten und dann nicht nur schnarchen, sondern auch quietschen", sagt Rosalinde so süß, daß den Räubern erst mal nichts weiter einfällt. Nur Bruno ruft plötzlich: "Gib her, oder es kracht!"

"Bei dir piepts wohl", entrüstet sich das Mädchen, "ich bin die Tochter vom Räuberhäuptling. Du wirst mich nicht anrühren!"

"Wir sollten sie eine Woche lang unter freiem Himmel schlafen lassen", schlug Kunibert vor.

"Umso besser, da muß ich euer Geschnarche nicht hören", kichert die Kleine.

"Du mußt mitten in unserem Zimmer schlafen", fällt Langbart ein.

" Na gut, ich überlegs mir."

Rosalinde steckt ihren Finger in den Mund, steht unschlüssig da. Da hat sie eine Idee. Sie nimmt beide Zeigefinger und stopft sie ins Ohr: "Haha, seht! Ich stopfe mir die Ohren zu und da könnt ihr um die Wette schnarchen."

"Die ziehe ich dir in der Nacht raus", grölt Teufelsfritz.

"Ich werde mir ein paar Ersatzstöpsel einstecken."

Paulchen denkt sich inzwischen: Na gut, ich suche in ihrem Zimmer nach der Schatzkarte. Er findet eine Karte mit Wegen und Kreuzen. Obs die richtige ist? Da Rosalinde das erste Mal in ihrem Leben flucht und die Karte wiederhaben will und schreit, daß sie nicht mehr mit den Räubern zusammenleben möchte, wenn sie in ihrem Zimmer stöbern, wissen die Räuber, daß sie Glück haben.

"Sogar die eigene Familie raubt ihr aus. Halunken," ruft sie ihnen nach, als sie zur Schatzsuche aufbrechen. Sie graben an der angekreuzten Stelle. Was sie nicht wissen können: Die Karte ist zwar echt, aber im Wald gibt es zwei täuschend ähnliche Wege und sie sind den falschen gegangen. So buddeln sie und treffen auf den Bau des Maulwurfs Eisenkralle. Er besitzt einen Kraftsaft, den er sich aus Löwenzahnwurzelmilch, Birkenrinde gemischt mit Tausendflüßlerblut und Regenwurmhaut braut. Das macht ihn so stark, daß er den Räubern der Reihe nach ins Gesicht springt, ihnen mit seinen Vorderpfoten einen Denkzettel verpaßt, daß sie schreiend in die Höhle zurücklaufen.

Rosalinde erschreckt: "Was habe ihr denn wieder angestellt?"

Da legen sie sich in die Höhle, auf- und untereinander und Rosalinde kuriert sie vier Tage lang mit verschiedenen Pilzsuppen aus. Damit heilen die Wunden schneller, jedoch die Narben werden bleiben. Sie sehen alle schrecklich verstümmelt aus, sind traurig und beratschlagen, wie sie ihr das Geheimnis entlocken können.

Mörderich verspricht: "Du bekommst immer das Essen, was du möchtest. Wenn du die richtige Karte rausrückst."

"Das glaube ich dir nicht."

"Ich verspreche hoch und heilig, beim rostigen Fleischerhaken an meiner Rechten und bei den Geistern der Höhle des Allmächtigen Räubergottes, der uns für unsere Heldentaten belohnen wird, daß wir dann keine Kutschen und Dörfer mehr ausrauben werden", gelobt Pampan feierlich.

"Wozu brauchst du dann die Karte", fragt Rosalinde spitzfindig.

"Hast du dich aber blöd angestellt", zischt Krabbelbabbel Pampan an.

Struwelpeter bietet an, sich dafür Haare und Fingernägel zu schneiden.

"Du bist so viel schöner! Wem soll ich denn sonst die Locken kraulen?"

"Gut. Wenn du die Schatzkarte nicht rausrückst, lasse ich mir alles, was an mir Haar ist, abschneiden", schimpft der strubbelige Peter.

"Da kann ich auch nichts machen." Rosalinde zuckt mit ihren Schultern.

So versuchen alle anderen Räuber, Rosalinde zu überreden. Stoffelkopf verspricht, ihre Flicken ganz bunt und wunderschön zu verzieren. Aber Rosalinde ist nicht modebewußt und meint, sie sei ja keine Prinzessin, sondern eine Räubertochter. Nieselprim will ihr sein neuestes Schnupfpulver, das er aus Chili, Brennesselkraut und kleingehackten Wespenstacheln zusammengemischt hat, schenken. Fauli will immer früh aufzustehen und ihr warmes Waschwasser machen. Ihn schimpft sie aus: "Willst du mich verhätscheln? Dann werde ich schlaff und krank!"

Ihr müßt nämlich wissen, daß von den Räubern nicht ein einziger jemals einen Arzt aufsucht. Nicht mal einen Zahnarzt.

Krabbelbabbel will ihr eine Tätwowierung zeigen, die noch keiner gesehen hat: unter seiner Zungenspitze. Rippenbiest meint, sie könne seine beiden Goldzähne erben, wenn er das Zeitliche segnet. Knoblauchfritze will ihr seine Knoblauchvorräte schenken, aber Rosalinde läßt sich nicht erweichen. Nur eins, meint sie, könne sie davon überzeugen, den richtigen Weg zu verraten: "He, Pappa, alter Teufelsfritze, du bist doch auch nicht mehr der Jüngste!"

Teufelsfritze fängt an zu stottern, obwohl er weiß, daß sie ja eigentlich nicht ganz unrecht hat: "Na....na..., s...sag das nnnicht!"

"Paß auf, Alterchen, deine Tochter ist jetzt schon fast zehn Jahre alt und längst erwachsen!"

" Jajjja, ffast zzehn bbist du, ggenauggesagt sieben, aaber erwachsen?"

"Sei nicht so zu ihr! Wenn sie halt erwachsen sein möchte, laß ihr doch den Spaß", meint Stinkepeter diplomatisch.

"Siehst du, andere sind viel klüger als du!", lacht Rosalinde.

"Aaausnahmsweise", gestattet der Vater.

"Wenn ich also erwachsen bin und dazu noch deine Tochter, kann ich auch gleich Räuberhauptmann sein", schlußfolgert das kluge Mädchen.

Die Hälfte der Räuber jubelt, weil sie dabei an die Schatzkarte denkt. Die andere fürchtet ihre kindliche Unberechenbarkeit und ist dagegen. Dabei ist es nicht wichtig, daß sie eine Frau ist oder ein Mädchen. Bei solchen Dingen sind die Räuber schon immer fortschrittlich. Eigentlich war sie ja gar keine richtige Räuberstochter, eher ein braves verzogenes Mädchen.

Zuerst wählen sie, weil sie demokratische Räuber sind. Es gibt einen Wahlkampf mit Reden und Plakaten. Im Räuberwald hängen die überdimensionalen Portraits von Teufelsfritz: mit schrumpliger blasser Nase. Manchmal hat da jemand - vielleicht ein Hase? - eine Möhre reingesteckt so wie beim Schneemann. Daneben die von Rosalinde mit einem winzigen Stubsnäschen. Ganz klein sind die Bilderchen mit zarten Farben auf Birkenrinde gezeichnet. Rosalinde ist mit ihrem rosa Sonntagskleidchen abgebildet. Ganz brav, mit Sommersprossen auf den Wangen. Den Räubern laufen heimlich die Tränen, wenn sie die Bilderchen sehen, weil es sie an ihre Kindheit erinnert. Natürlich wird sie gewählt. Und wenn man genau sein will, nicht einmal wegen der Schatzkarte.

Jedoch letztendlich entscheidet bei den Räubern der Ringkampf - trotz Wahl und Demokratie. Und beim Catchen hat Rosalinde sehr schlechte Karten. Alle Räuber umstehen die beiden, den alten, schon fast tattrigen Teufelsfritz, der aber noch sehr kräftig ist, obwohl er sich vor Angst gleich wieder in die Hosen machen wird. Ihm verrutscht die Augenklappe. Seine rote Nase wird blaß. Ihm gegenüber das zarte siebenjährige Mädchen im rosa Kleid.

Rippenbiest feuert Rosalinde an: "Zeigs ihm!"

"Dich setze ich hiermit ab als meinen Stellvertreter", wettert Teufelsfritz.

Nieselprim niest so sehr, daß es Teufelsfritzs Auge verklebt und er nur noch die Umrisse sehen kann. So nähert sich Rosalinde, die genau weiß, wo ihr Vater krabbelig ist. Und während sie alle durcheinander schreien, Mörderich vor Angst um sie flennt, der Struwelpeter seine Haare aus dem Gesicht herausfummelt, Paulchen vor Schreck drei große Pickel wachsen, Langbart sich die Haare ausrauft und wie ein Büßer aussieht, Fauli nervös hin- und herrennt, dem Krabbelbabbel vor Schreck die Hörner nach außen wachsen und sich der Stinkepeter mit seinen Socken die Tränen aus dem Gesicht wischt, läuft Rosalinde schnurstracks auf Teufesfritz zu, kitzelt ihm hinterm linken Ohr und der alte Räuberhäuptling muß so lachen, daß von allen umstehenden Tannen die Tannenzapfen im Umkreis von vierundvierzigkommavier Kilometern herunter auf die Häupter der Räuber purzeln, sie ohnmächtig umfallen und nur im Traum hören, wie der alte Räuber kichert und lacht und sagt: "Jaja, sschschschon gut, ddd...da b..bist du jetzt eben Räuberhäuptling."

Damit gab er sich geschlagen.

Als die Räuber aufwachen, sind sie alle traurig, trotten mit geknickten Köpfen in die Höhle und murmeln vor sich hin: "Jaja, war ein schöner Traum, aber eben nur ein Traum."

In der Höhle sitzt Teufelsfritze, hackt Feuerholz und wäscht ab.

"Was machst du denn", fragt Kunibert.

"Was bleibt mir weiter übrig?", beklagt sich Teufelsfritze.

"Du hast noch nie abgewaschen!", staunt Langbart. "Wie kommst du dazu?"

"Frag meine Tochter!"

Struwelpeter, der sich die Haare aus dem Gesicht fummelt, dämmert es: "Es war also doch kein Traum!"

Nieselprim muß vor Freude so sehr niesen, daß das ganze Geschirr nochmal abgewaschen werden muß.

"Dankschön", flucht Teufelsfritze, "jetzt kann ich von vorne anfangen."

"Und richtig schön polieren, so wie's deine Tochter immer gemacht hat", frohlockt Fauli.

So ist Rosalinde jetzt Räuberhauptfrau, oder genauer gesagt, erst einmal Räuberhauptmädchen. Sie teilt ein, wer kocht, abwäscht, Wasser holt, Bier braut und wer Him- und Brombeeren pflücken geht. Aber am liebsten ißt sie Stachelbeeren. Überall im Wald werden Stachelbeerbüsche angepflanzt. An den Sonntagen dürfen die Räuber ihrer Leidenschaft nachgehen: Schätze suchen. Sie graben hier und dort. Seppelschatz muß jede Grabstelle in einer Karte eintragen, aber da seine zeichnerischen Fähigkeiten zu wünschen übrig lassen, graben die Räuber in all den Jahren den ganzen Wald dreimal um. Oder viermal. Ab und zu finden sie einen Schatz - selbstverständlich. Und dann sitzen sie um die Kisten, Kronen und Brillianten herum. "Weißt du noch, das war jene blaue Kutsche, die wir vor fünfundvierzig Jahren überfielen. Dank unserem neuem Räuberhauptmädchen haben wir ihn endlich wiedergefunden. Das hätten wir unter deiner Herrschaft nie geschafft, Teufelsfritz!", sagt Rippenbiest, Rosalindes Stellvertreter.

Rosalinde? Wie alt sie heute ist? Ihr werdet es mir nicht glauben. Ich darf es eigentlich nicht weitererzählen. Nun gut, euch kann ichs verraten. Kommt nochmal ganz nahe ran. Ich flüstere es euch zu und hoffe, daß ihr es versteht. Ja, die Stachelbeeren von Manemanenes Waden... Ihr versteht. Nein? Ihre Lieblingsspeise... Ihr wißt doch. Naja, diese Stachelbeeren... Unglaublich, oder?

 

Agnieszka Haupe-Kalka & Dieter Kalka zusammen mit der 1. und 2. Klasse der Grundschule in Kohren-Sahlis