Website der Leipziger Liederszene
Lieber Werner!
An viele Begegnungen erinnere ich mich sehr gern, z.B. in der Französischen Straße in Berlin und bei den Chansontagen im Kloster Michaelstein. Die wichtigsten für mich aber gab es beim Lehrgang für die jungen Barden in den 80er Jahren - ich war einer von ihnen. Mit der Kraft des „Komitees für Unterhaltungskunst“ waren für unseren kleinen Kreis Veranstaltungen theoretischer und praktischer Natur möglich geworden, die mich damals vielfach beeindruckt und in der Folgezeit begleitet haben.
Einmal rekonstruiertest Du den „Dichterwettbewerb zu Blois“, den 500 Jahre zuvor François Villon gewonnen hatte. Mit der Vorgabe der ersten Zeile, in drei deutschen Nachdichtungsvarianten, hast Du uns ins Rennen geschickt. Ich erinnere mich nicht mehr an die Preisverleihung, oder wer den Sieg davongetragen hat. Mein Ergebnis aber war dieses:
VOR DER ERÖFFNUNG EINES BANKETTS
Vor vollen Schüsseln muß ich Hungers sterben
Da vorn der Redner spricht und spricht und spricht
Salate fangen an, sich zu verfärben
Ich könnte essen, doch ich esse nicht
Ich habe es gelernt, mich zu benehmen
Ich seh, was daran gut ist, wirklich nicht
Es fällt mir langsam schwer, mich zu bezähmen
Der Redner aber spricht und spricht und spricht
Mein Magen dreht sich um und um und wieder
Ein neues Blatt, der Redner spricht und spricht
Ach, Reden sind genauso schlecht wie Lieder
Ich könnte essen, doch ich esse nicht
Es hört nicht auf! Mein Gott, man muß doch essen
Das müssen alle! Und ein Redner nicht
Für alles ist die Zeit genau bemessen
Der Redner aber spricht und spricht und spricht
Die Übelkeit ist nicht mehr zu ertragen
Wer schiebt dem Kerl ein Weißbrot ins Gesicht
Um ihm dann bei dem kleinsten Mucks zu sagen
Mit vollem Mund, Genosse, spricht man nicht
Ich bin es nicht. Ich werde Hungers sterben
Vor vollen Schüsseln. Ich berühr sie nicht
Und mein Gesicht beginnt sich zu verfärben
Der Redner aber spricht und spricht und spricht ...
Frank Viehweg © 1986
Foto: Hans-Jürgen Horn
Ein wenig später konnte ich Dir zwei Strophen in Form und Versmaß des François Villon mit den beiden anderen deutschen Zeilen nachreichen:
BEIM VERSUCH, EIN GEDICHT ZU SCHREIBEN
Ich sterbe dürstend an der vollen Quelle
Die Worte sprudeln und sind wieder fort
Ich setze neue an die alte Stelle
Und sehe, sie stehn nicht am rechten Ort
Was ich auch wähl, es ist das falsche Wort
Und das Gedicht, das ich doch schreiben muß
Hat keinen Anfang und hat keinen Schluß
Was laß ich mich auf solche Sachen ein
Die mir nichts weiter bringen als Verdruß
Ich bin verrückt! - Ich muß ein Dichter sein!
ERKLÄRUNG EINER UNTAUGLICHEN ZEILE
Ich sterb verdurstend an des Brunnens Rande
Das klingt absurd, und soll es wohl auch sein
Doch ungenau, es ist fast eine Schande
Ist jene Zeile, so wie dieser Reim
Wie allzu oft, so täuscht auch hier der Schein
Man denkt, der Kerl kommt nicht von selber drauf
Man ist verstimmt und möchte schreien: Sauf!
So ist es nicht. Denn wie die Sache liegt
Klärt sich das scheinbar Paradoxe auf:
Der Brunnen ist seit einem Jahr versiegt.
Frank Viehweg © 1986
Zulassung als Berufsmusiker
Dies zur Erinnerung für Dich, lieber Werner, und vielleicht zur Freude der Besucher dieser Website!
Herzliche Grüße durch das Netz!
Frank
Zwei Nachbemerkungen:
1.
Frank ist einer jener Liedermacher aus der abgewickelten DDR, die noch regelmäßig auftreten und CDs produzieren. Derzeit ist wieder eine in Arbeit. Sie sei schon jetzt empfohlen.
Ebenfalls empfohlen sind seine Nachdichtungen des tschechischen Kollegen NOHAVICA!
2.
Müssten hier alle stehen, die das große Glück hatten, an diesem Lehrgang teilgenommen zu haben.
Wir warten und sind geduldig.
DIE LEIPZIGER