DIE
ERSTE ALTERNATIVE BUCHMESSE
DIE
ERSTE ALTERNATIVE BUCHMESSE
DIE ERSTE ALTERNATIVE
BUCHMESSE
(1. ABM)
in Leipzig
1990
DIE ERSTE ALTERNATIVE
BUCHMESSE
(1. ABM)
Klubhaus Heinrich Budde, Foto Bernd Heinze
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Plötzlich war alles möglich.
Die
Grenze war weg. Die Ostmark noch da.
Die Regierung war weg. Die
Zwischenregierung noch da.
Die Stasi-Zentrale gestürmt. Die Akten
noch da.
Noch waren wir DDR-ler, Halbdeutsche sozusagen.
Und man
konnte eigentlich beinahe tun und lassen, was man wollte.
Ich hatte eines Tages die total
verrückte Idee, eine Buchmesse zu machen
Und besorgte mir die
Adressen von dpa, ADN und paar großen Sendern und Zeitungen
und
hämmerte einen dreizeiligen Text auf dünnstem
Durchschlagpapier in
die Erika-Schreibmaschine.
Ich habe seinen Namen vergessen, aber
er kam dann selber vorbei.
Einer jener, die im Westen die Alternativen
Buchmessen mit organisiert hatten, war nun als Journalist bei dpa
tätig
und ihm fiel mein Dreizeiler in die Hände.
Ihm hatten wir es zu
verdanken, dass die deutschsprachige Welt von meinem irrwitzigen
Vorhaben erfuhr.
Da meine Postfachnummer in der
Leipziger Hauptpost mit veröffentlicht wurde, kamen
haufenweise
Briefe.
DIE
ERSTE ALTERNATIVE BUCHMESSE
Überschrift, Süddeutsche Zeitung vom 16.3.1990
DIE
ERSTE
Rosemarie Heinze von der Initiativgruppe beim Vorbereiten.
Foto: Bernd Heinze
ALTERNATIVE BUCHMESSE
Es wurden 40 Zusagen: Octopus-Verlag
Radebeul, Leipziger Verlagsgesellschaft, Kontext-Verlag Berlin,
Aurora-Verlag Berlin, dipa-Verlag Frankfurt/Main, Flemming-Verlag
Stuttgart, Literaturzentrum Neubrandenburg, Forum-Verlag Leipzig,
Verlag am Galgenberg Hamburg, Dr. Rügemer Köln,
Klampen-Verlag
Lüneburg, intarlit/drögel-verlag Köln,
Mink-Verlag Berlin,
Format-Verlag Gera, Unabhängige Verlagsbuchhandlung Berlin,
Signal-Verlag Baden-Banden, Manhold-Verlag Bremen, AV-Verlag
Augsburg, Literatte, ISP-Verlag Frankfurt/M, Labyrinth-Verlag Berlin,
Syro-Verlag Göttingen, Linksdruck Berlin,
Philosophisch-Humanistische Gesellschaft Sachsen Leipzig, Infodienst
Ökodorf Steyerberg, Lenos-Verlag Basel, Menke-Press Leipzig,
stecknadel-verlach Leipzig, Weismann-Verlag München, edition
augenweide, Uwe Warnkes „entwerter oder“, der
Zwielicht-Verlag
Berlin, der Anita Tykve-Verlag von Xing-Hu Kuo, der zwei seiner
Autoren mitbrachte, alles Schwerdissidenten. Joachim Oertel
erzählte
zu seiner Lesung im Klubhaus „Heinrich Budde“, dass
sie ihm zu
seinen Verhören versprachen, „er verließe
das Land nur über den
Schornstein“, der andere war Andreas Schmidt.
Es kamen auch die Verlage von Osho und Krisna,
der Ahriman-Verlag mit seinem umstrittenen Autor Reter Priskil,
der ein kluges Buch über Salman Rushdi geschrieben
hatte sowie als Kuriosum der Kinderbuchverlag der DDR, weil Kinder
seinerzeit keinen Zugang zur offiziellen Buchmessse hatten, denn man
musste 14 sein, um reinzukommen.
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Kinder auf der 1. Alternativen Buchmesse
Und: Krise für 4.- M
Foto: Bernd Heinze
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Ja, noch waren 2 Monate Zeit. Es gab
kein Haus. Es gab keine Struktur. Nur mich Vollidioten, der was
machen wollte. Aber es ging schnell. Wir saßen in Gohlis in
einer
Proletenkneipe und unser Beinahe-Nachbar Hermut klinkte sich ein:
„Da
mach ich mit.“
Es ging schnell. Viele wollten dabei
sein.
Dazu kamen Benjamin Weinkauf (Schüler),
Jayne-Ann Igel (Lyrikerin), Rosemarie Heinze (Grafikerin), Sebastian
Kleindienst (Drucker), Peter Hinze (Buchhändler); Matthias
Seydewitz, Hermut (Ökonom),
Heiko und Gitta Langer (Buchhändler),
Thomas Naumann (Germanist)
und meine damalige Lebensgefährtin (leider auch Haupt-IM
Katharina
Luft alias Henriette Neuberin).
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Dieter Kalka; Foto: Bernd Heinze
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Ich rannte durch die Stadt, saß in
Cafés, traf Bekannte und fragte. Jeder hatte Ideen und gab
Tipps. So
kam ich zu meinen Partnern. Die FDJ (!!!) bot mir damals ein
Pionierhaus an. Kostenlos, versteht sich. Selbst die Moritzbastei
wollte dabei sein. Irgendwie schmeckte mir das nicht. Das passte
nicht, obwohl es vom guten Willen der alten Geister zeugte.
Es wurde die alte Trenkler-Villa im
Norden von Leipzig, in Gohlis, damals fuhr die Straßenbahn
Nr. 6
noch dort vorbei und Reinhard Bernhof, der bei mir um die Ecke
wohnte, meinte, seine Frau würde mir das schon
überlassen.
Kostenlos nicht, aber …
Es war bezahlbar.
DIE
ERSTE ALTERNATIVE BUCHMESSE
DIE
ERSTE ALTERNATIVE BUCHMESSE
Die Buchmesse wurde also im Klubhaus
„Heinrich Budde“ abgehalten.
Vom 11. - 14.3.1990.
Ich glaube, in diesen zwei vorhergehenden Monaten
habe
ich kaum geschlafen. Ich hatte immer nur eins im Kopf: Wir wollten
die neuen Geister einlassen in unser verkrustetes, alt gewordenes
vierzigjähriges Staatsgebäude, sie sollten mit ihren
Ideen helfen,
dass der alte Mief verschwindet.
Und wir hatten die Idee (die offizielle
Buchmesse hatte nur 5 Lesungen insgesamt), dass wir Autoren einladen.
Knete hatten wir nicht, aber alle kamen gern. Die nicht lesen
konnten, rückten spontan an und schauten wenigstens vorbei wie
der
deutsch-Rumäne Franz Hodjak, der gerade einen Preis bekommen
hatte.
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Veranstaltungsplan der 1. Alternativen Buchmesse
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Es war ein Fest – drei Tage lang
volle Bude.
Die Klubleiterin zeigte mir dann im
Gärtchen des Hauses die überfahrenen Tulpen und Rosen
und verwiesen
auf einen Mercedes als Verursacher.
Es stellte sich heraus, daß Xing-Hu
Kuo jener ungelenke Wagenlenker war. Nach dem überaus
beeindruckenden Abend mit seinem Autor Andreas Schmidt, Joachim Ortel
und ihm selbst (der sieben Jahre in Bautzen eingelocht war, als
Zuckerkranker ohne Medikamente) und einem dritten Dissidenten, sprach
ich ihn betreffs der Rosen und Tulpen an.
Er lächelte vielsagend: „Die
Blumen
werden sich schon wieder erholen“.
Das meinte er durchaus doppelsinnig.
Was sind schon ein paar Tulpen
gegenüber sieben Jahren Gefängnis in der DDR?
Ich weiß nicht, gerade in diesem
Moment hatte ich ihn in mein Herz geschlossen, obwohl es meine
Aufgabe gewesen wäre, ihn – na was nun? Zu tadeln?
Zu bitten, in
Zukunft besser aufzupassen?
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Weiterhin lasen Reinhard Bernhof,
Manfred Jendryschik, Jayne-Ann Igel, Matthias Seydewitz, Ralph
Hammerthaler, Benjamin Schwarzenberg-Weinkauf, Dieter Kalka, Hilmar
Griesbach, Gabriele Barthel,
Katharina Luft, sowie
Spontanlesungen und Aktionen mit Christian Staudinger.
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Verlagsliste der 1. Alternativen Buchmesse Leipzig
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Zu unserer „Pressekonferenz“,
die
ich hier mal in Gänsefüßchen setze, die
aber meine erste
Pressekonferenz war und echt der Hammer wurde, hatte die den Pappa
von Benjamin gebeten, der war inzwischen Kulturdezernent, dabei zu
sein.
Wenn wir Spontis Unsinn erzählten,
sollte er ablenken.
Es war alles da, was Rang und Namen
hatte in der deutschsprachigen Radio- und Fernsehwelt. Das ZDF baute
sich links auf, die ARD rechts und 3sat in der Mitte. Schweizer
Redakteure stellten Zwischenfragen. Vor allem eine: „Chat es
sich
denn gelohnt, so weit chiercher zu fahren?“
Diese Frage wurde von einem Schweizer
Verleger spontan beantwortet: „Abech natürlich chat
es sich
gelohnt!“
Und dann kam Frau Renker von der
offiziellen Buchmesse, ein strammes Mädel Mitte vierzig, etwas
autoritär, aber eigentlich liebenswürdig und meinte
uns den
Gefallen zu tun mit dem Angebot, im nächsten Jahr
„unsrer“
Buchmesse zu finanzieren, die alternative wiegesagt, und einen Ort
hätte sie auch schon: die Untergrundmessehalle.
Es ging ein Raunen durch den Raum und
ich, Sponti vom Dienst, assistiert vom Leipziger Kulturdezernenten,
Pappa Weinkauf, räusperte mich und übte Demokratie:
„Möchte
jemand der anwesenden Verleger nächstes Jahr als Teil der
offiziellen Buchmesse ...“
„Nöö!“,
riefen die ersten.
Nicht etwa die totale Ablehnung. Nicht
etwa der Kulturschock an sich. Man wollte nicht eingekauft werden.
Ich übrigens auch nicht.
Frau Renker hatte es einfach falsch
angestellt.
DIE
ERSTE ALTERNATIVE BUCHMESSE
Christel Foerster in der LVZ
DIE
ERSTE ALTERNATIVE BUCHMESSE
Ja, so prallten Welten aufeinander.
Übrigens habe ich sie später
immer
mal wieder gesehen und wir waren wie zwei Seiten einer Medaille.
Irgendwann sagte sie mir frei heraus: „Das mit ihren
Lesungen, das
haben wir übernommen. Mit den Cafés auch. Sie sehen
– das nennt
sich heute „Leipzig liest“.
Nunja, irgendwie wurden wir dennoch
eingekauft, wenn auch nur unsere Ideen.
Und: Ich hatte nicht mal was dagegen.
So begann die Verschmelzung von Ost und
West, der Zusammenbruch der rigiden Strukturen, so wuchs etwas Neues,
wenn es mir auch nur die Arbeitslosigkeit einbrachte.
Ja, ich war tatsächlich so
blöd, eine
echte ABM (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme) für eine
weitere ABM
(Alternative Buchmesse) – von der Leipziger Kulturkommission
während der Wendezeit vorgeschlagen – abzulehnen.
Hochmut kommt vor dem Fall.
Oder Arbeitslosigkeit vor dem Gefühl,
eingekauft zu werden.
Freundlich eingekauft. Eher umarmt. Von
Frau Renker.
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Es gab keine 2. Alternative Buchmesse.
Nicht in Leipzig.
Die Leute hatten anderes zu tun.
Nur die Verleger – eigentlich nicht.
Die hätten das tatsächlich gebraucht.
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Dafür gab es 2 kg Papier. Lauter
Artikel, mir auf mein Postschließfach Nr. 573 auf die
Leipziger
Hauptpost zugestellt. Von den Zeitungen, die darüber
geschrieben
hatten. Über die Alternative Buchmesse. Die erste. Es waren
hunderte. Artikel. Kurze, aber meist lange. Von den großen
Zeitungen
und den Provinzblättern, auch aus der Schweiz. Über
Zukunft und
Visionen. Leipzig – Futur zwei.
Ich übergab die 2 kg an Benny.
Als ich ihn vor einem halben Jahr
danach fragte, meinte er: „Die sind wohl weg.“
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Nicht ganz. Hier ist ein Artikel wiedergefunden worden. Süddeutsche Zeitung vom März 1990.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages verwendet.
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Ja, wir hatten anderes zu tun.
Heute, ein viertel Jahrhundert danach,
erinnert man sich wieder.
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Der Rest des Artikels von Detlef Grumbach aus der Süddeutschen Zeitung vom 16.3.1990
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Aber eins ist sicher: Verloren ist
nichts.
Sie lagern in den Archiven der
Zeitschriftenverlage und irgendwann kommt alles wieder ans Licht.
Zumindest die fast vollständige
Verlagsliste ist auf der Website von Christian Staudinger nachzulesen.
Er hatte den Zettel offenbar nicht weggeworfen.
Auch die Veranstaltungsliste stammt aus seinem Archiv.
Und man möge sich bitte auch seine beiden Videos auf JUTUBE anschauen.
Eins über die Buchmesse und eins über die Lesungen.
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Artikel in der Wochenzeitung "Die Grünen" von Michael Rittendorf, März 1990, weiter siehe nächstes Bild
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Auch der über dpa/ADN
veröffentlichte
Text ist sogar noch über Suchmaschinen auffindbar:
„Leipzig (ADN).
Eine Gruppe Leipziger Autoren will im März in Leipzig die
erste
alternative Buchmesse organisieren. Sie soll vor allem neu
gegründeten DDR- Verlagen, aber auch Kleinverlagen aus der
BRD...“
Naja, für mehr da braucht man den
Archivzugang.
Erste Alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Artikel in der Wochenzeitung "Die Grünen" von Michael Rittendorf, März 1990
Erste alternative Buchmesse 1990 Leipzig
Aber wozu hat der Mensch denn ein gut funktionierendes
Gedächtnis?