Liebeslieder
auf politischem Splitterglasgrund
Biografische
Querverweise zu Dieter Kalkas Entwicklung zum Liedermacher
Aufgezeichnet
und zusammengestellt von Moritz Jähnig
Dieter
Kalka wurde geboren im Hospital der Skatstadt
Altenburg. Sein
Großmutter Dora Josefiak und sein Vater waren
Nachfahren polnischer Einwanderer aus Posen,
er
Gießereiarbeiter,
die Mutter eine Umsiedlerin aus dem Dorf Leimgruben bei Karlsbad, die
oft erzählte, wie Großvater mit dem
„Bahnert“ in den Wald ging
und voll mit Steinpilzen wiederkehrte. Kalka wuchs die ersten zwei
Jahre in Mehna auf, wo auch seine Großmutter wohnte, weil die
Eltern dort eine winzige Wohnung überhalb des Dorfteiches
erhielten. Der
damaligen
Wohnungsknappheit konnte die Familie entgehen, indem der Vater
„einige tausend Stunden“, wie desöfteren
erzählt wurde,
entgeltlos für die Arbeiterwohnungsbaugesellschft (AWG)
arbeitete,
um Mitglied zu werden. Sie zogen nach Meuselwitz im September 1959
als eine der ersten Familien in die Grenzstraße 17, am
Stadtrand
gelegen, und, für einen späteren Poeten
hätte der Straßenname
nicht besser ausfallen können: die historische Grenze zwischen
Thüringen und Sachsen. Kalka wird später
darüber witzeln, aber ob
das wirklich ein Witz sein sollte, ist nicht ganz sicher: ''In
Thüringen kann ich mich gut verstecken / In Sachsen
hängt mein
Steckbrief an der Wand''.
Auf
Messers Schneide tanzen zwischen den Systemen, zwischen The- und
Atheismus, zwischen Muse und Formel, zwischen Staatsfeind und
Preisträger, das nahm hier seinen Anfang.
Seine
erste Kindheitserinnerung ist die „an die erste Nacht im
eigenen
Bett und an eine Glühbirne, die von der Decke baumelte, noch
ohne
Lampenschirm, der Geruch nach frisch gekalkten Wänden und
plötzlich
das erste Mal eine Nacht ganz allein im Zimmer.“
Trotz
der immensen Bombenangriffe auf die Kleinstadt blieb einige
historische Bausubstanz erhalten, übrigens auch die
KZ-Baracken auf
dem ehemaligen HASAG-Gelände, auch
Bürgerhäuser im Jugendstil und
einige Bauhausgebäude wie die
„Erich-Mäder-Schule“, in die
Kalka acht
Jahre
lang ging. Gleich im ersten Schuljahr erhielt er vom
Privatlehrer Whyrwa Akkordeonunterricht für 4,50 MDN die
Stunde.
Später sagte sein Vater zu ihm: „Da hättest
du gleich beim Whyrwa
Bandoneon lernen können, der spielte das auch.“ So
kam Kalka zur Musik:
„Mein
gleichnamiger Onkel spielte Akkordeon. Er war Ingenieur in der Mafa
und fuhr in all die Länder, wohin die Maschinen verkauft
wurden, um
sie vor Ort aufzubauen. Ein Weltgereister mit Akkordeon zu Hause. Das
war im ummauerten Ostdeutschland doch ein hübsches Lebensziel.
Daher
lernte ich Akkordeon. Über ihn wurden lustige Geschichten
erzählt,
wie sie mit dem Paddelboot auf den Hainbergsee ruderten und er
spielte und sang und dann kippte das Boot um. Das Akkordeon hatte er
umgeschnallt und an Land gebracht. Aber
vollgesogen mit Wasser war es
vollkommen hinüber.
Wenn
ich mir überlegte, wieviel Erdumrundungen ich mit dem
Bandoneon
hinter mir habe, wie oft ich es beim Auftritt unbeobachtet auf der
Bühne habe stehen lassen und in wie viel Zügen ich es
hätte
liegenlassen können, so ist es unglaublich, dass es kein
einziges
Mal weggekommen ist oder irgendwie beschädigt wurde. Es
scheint
wirklich ein Teil von mir zu sein.
Als Kind zog ich das schwere dreichörige Akkordeon auf dem luftbereiften
Handwagen durch die ganze Stadt, bergauf bis knapp vor den Lindenhof
und die
unmusikalischen Lausbuben meiner Straße lauerten
hinter
Häuserecken, griffen sich den Koffer und rannten schnurstracks
damit
davon.
Manchmal kam ich schon etwas später an.
Einige
Jahre später am Lagerfeuer aber grölten sie die alten
Sauflieder
kreuzbrav hinaus in die grudeschwarze Nacht, während ich die
obligaten drei Griffe dazu klampfte.“
Die
katholische Familie gehörte zur St.-Elisabeth-Gemeinde des
inzwischen eingemeindeten Zipsendorf und Pfarrer Paul Teipel, welche
ihn zur Erstkommunion
begleitete und kurz darauf firmte, war ein
„Kindernarr mit der Seele eines Schmetterlings“ -
ganz im
Gegensatz zu seinem Nachfolger, einem pechschwarzen Zyniker, der
erotische Ministrantenspiele vorschlug wie
„Schinkenklopfen“ und
es liebte, nachts zu Ministratenausflügen finstere
Gruselgeschichten
zu erzählen, als Mutprobe sozusagen.
Beide
hat Kalka literarisch auf seine Art verarbeitet. Zweiterer scheint in
Geschichte „Der Ministrant“ durch die Blaupause.
Ersterem
widmete er das Gedicht „Antrag auf Seligsprechung“.
Aufgrund
des Zynikers ist ihm der Glaube widersinnig geworden und er ist
„dann
einfach nicht mehr hingegangen, aber etwas ist geblieben. Religion
als erste Reflexionsebene, aber dazu gezwungen, mich zu verstehen,
fiel ich, auf der zweiten Stufe sozusagen, unwillkürlich aus
der
Mitte der Gemeinschaft, stand daneben oder darüber oder sang
und sie
hörten einen Moment lang zu – mehr aber nicht."
"Was
ich an naivem Glauben verlor, ist hinübergeschlichen zu
Märchen,
Mythen und Mythologien, natürlich zuerst zur verfemt
germanischen,
später der ägyptischen, der Hopi, der slawischen, der
griechischen
natürlich auch, aber nicht vordergründig, denn die
germanische ist
noch so naiv-kindlich und die griechische vollgepackt mit
hinterhältig versottenen Helden. Lange habe ich gebraucht, sie
in
Texte einzubauen. In Gedichten aus dem 'Schleier' kann man das
finden. Aber das erste Mal, wo ich sie lebendig werden ließ,
war im
Sorbenroman 'Sudićka'.“
Ja,
und das Lesen: „Es begann in der Zipsendorfer
Kirchenbibliothek,
die nach den Messen für ein halbes Stündchen
öffnete, oben auf der
Orgelempore, wo ich einen Blick haschte auf die Manuale und die
Fußpedale,
während der Organist seine Noten
einpackte. Später wird
ein Deutschlehrer kommen, auch ein 'Umsiedler' aus
der
slowakisch-ungarischen Grenzregion, ein Schriftsteller,
Multisprachler (Russisch, Slowakisch, Englisch, Ungarisch, etwas
Latein, und gar ein Hauch Esperanto), Keyborder war er auch in der
örtlichen Rockband und dieser Walter Stallinger rezitierte
nicht
weniger beeindruckend als Meister Kinsky.
Ja,
auf der allgemeinbildenden Oberschule ging alles noch etwas
unpolitisch von Statten, zumindest so lange der aus Prag stammende
Direktor Heinz Schaufuß die Geschicke bestimmte, als einziger
Schuldirektor der DDR, der kein SED-Mitglied war. Aber er wird nach
Afrika gehen als Buschlehrer und er wird noch mehr Gelassenheit
mitbringen, als er schon vorher besaß.“
Um
den Ort herum, zuerst mit dem Fahrrad erkundet, später mit den
Moped, aufgeforstete Wälder und Tagebauseen,
unzählbar viele,
verteilt in alle
Himmelrichtungen, nicht ungefährlich, in
allen
Größen und Tiefen, manche mit Umpumpstationen
versehen, um die
umliegenden Brikettfabriken mit Frischwasser zu versorgen, in andere
ergoß sich der Unrat der Fabriken, auch des
Tröglitzer
Hydrierwerks, öliger Eiter und Schlamm. Es ist die gleiche
Landschaft, welche Hilbig
inspirierte und abstieß. Die Brikettpressen rasselten tags
und
nachts, das Klickern war im ganzen Ort zu hören und je
nachdem, wie
der Wind blies, kam dazu der Gestank der „Alten
Abdeckerei“,
welche auch in einer Erzählung von Hilbig beschrieben ist.
Dazu die
Maschinenfabriken – und entweder arbeiteten die
Väter in der
„Kohle“ oder der „Mafa“
(Maschinenfabrik).
Die
gewonnene Sensibilität des Christen, die Reflexion
über Gut und
Böse, Neid und Vergebung wurde im Allgemeinen verlacht, in
einer
schwer atheistischen Umwelt, wo Prügeleien zum Standard
gehörten
und alles, was irgendwie anders schien, an den Rand gedrängt
wurde
oder gar
bespuckt: „In dieser Zerrissenheit glaubte ich jeden
Tag,
endlich dem Irrsinn anheim zu fallen, um vollkommen befreit
letztendlich nur noch zuschauen zu müssen.“
In
den stalinistischen Kaderschmieden der zukünftigen
Oberschicht, den
Gymnasien, die „Erweiterte Oberschulen“
hießen, wurde auf
militärischen Drill in den Ferien Wert gelegt, sogenannte
GST-Lager
mit Marschübungen, Gasmaske und Schusswaffe waren Pflicht.
Die
Jugendlichen, und Kalka bildete da keine große Ausnahme,
ließen
sich die Haare lang wachsen (so lang es eben ging), Protesthaltungen
eben und übten sich darin, geschickte Fragen zu stellen,
welche die
Lehrer in Verlegenheit brachten: „Beweisen Sie uns doch mal,
dass
die Materie zuerst da war!“
Durch
den Freund Lutz Nitzsche verfiel Kalka aber auch noch verbotener
Schriften, die er sich schließlich etwas zu sehr zum Vorbild nahm.
1974
gründete er mit Freunden aus der katholischen Jugend Zeitz die
Rockband „Steam-Machine“.
Sie probten nun genau in jener evangelischen Kirche in der
Innenstadt, vor welcher sich wenige Jahre später der Pfarrer
Oskar
Brüsewitz öffentlich verbrannte: um ein Zeichen zu
setzen.
Das
Mathetalent Kalka nahm mehrfach an Mathematikolympiaden teil und
gewann einen zweiten und einen ersten Platz im Kreiswettbewerb.
Sein
Mathe- und Klassenlehrer hielt es nicht für nötig,
ihm zu
gratulieren. Später sagte einer seiner Mitschüler,
ebenfalls
Mathefreak und inzwischen Chef einer Softwarefirma: „Der
hatte nur
Angst, dass wir besser sind als er.“
Mit
dem Schulfreund Wolfgang
Löser aus der Parallelklasse gründete Kalka
eine
unplugged-Band. Beide sollten gezwungen werden, dem
„peinlichen
Singeklub“ der „noch peinlicheren
Musiklehrerin“ beizutreten –
da machten sie es eben
selber. Zu einer Gedenkveranstaltung sangen
sie und erhielten Standing Ovations von ihren Mitschülern,
wurden
aber wegen des Songs "Hiroshima" im Repertoire nicht mehr
zu Auftritten zugelassen.
Nicht
so wild, denn in dieser „Pantoffelschule“ wurden
die Kellerräume
als Garderobe benutzt. Kalka saß dort und sang
während der
45-minütigen Mittagspause viermal in der Woche vor seinen Mitschülern. Seine
sudetendeutsche Mutter kochte böhmisch und viel besser als die
Betriebsküche und er nahm an der Schulspeisung nicht teil.
Nun,
neben dem Abizeugnis hatte er bereits über 400 Auftritte
hinter
sich, als er die Schule verließ.
Keiner
der Pauker hatte das mitbekommen, oder doch?
Wenn
man so will – den Musik-Bachelor längst in der
Arschtasche.
Erste
Vertonungen gab es bereits.
Es
fehlten noch eigene Texte.
Wolfgang
Hilbig
wird ihm einige Jahre später eine Reclam-Anthologie mit
französischer Lyrik zustecken. Kalka wird sie vertonen:
Apollinaire,
Rimbaud und Villon.
Als
er von Akkordeon auf Gitarre umsatteln wollte, gab es im Ort nicht
einmal einen Gitarrelehrer. Inspiration von außerhalb war
nicht zu
finden und jene, die es hätten wissen müssen, die
Musiklehrerin,
behielten sicher nicht ohne Grund
ihre Informationen für sich.
Kalka
wurde von der Direktorin vorgeschlagen, dass er sich als
Fliegeroffizier bewerben solle, das würde die Direktion
unterstützen.
Er
redete sich damit heraus, dass er nicht schwindelfrei sei.
Aber
einem Test könne er sich ja unterziehen, war die Replik.
Allein
der Gedanke daran...
Daher
entschied er sich trotz des Doppeltalentes für ein
Technikstudium,
aber kaum an der TH Ilmenau angekommen, lernte er Gernot
Ecke kennen, der Flöte blies und gründete
mit ihm
die Folkband „Feuertanz“.
Nach
dem Rauswurf von der TH Ilmenau wegen Besitzes verbotener Schriften
arbeitete er in verschiedenen Orten wie in Langewiesen in der
Thermosflaschenfabrik, in Schneeberg als Heizer an der Fachschule
fürangewandte
Kunst. „Da knallte ich früh
um sechs die Öfen
voll und fuhr mit den Studenten zur
Kunstgeschichtsvorlesung“. Am
besten waren die Designervorlesungen von Claus Dietel - ein echter Bauhausmann. In der Musikschule Aue hatten sie
nur Bluesgitarre angeboten. Das wollte ich nicht. Der anwesende
Gitarrist aus Annaberg-Buchholz meinte: 'Alter, Bluesgitarre kann man
immer brauchen'. So nahm ich an und lernte Triolen und Lagen.“
Als Kalka jüngst mit dem Komponisten Hubertus Schmidt an seinem
Songbuch arbeitete, fischte Schmidt die übersehenen
Blue-Notes heraus. Sie waren ihm in die Bandoneon-Riffs geraten.
Kalka
arbeitete dann noch einmal kurz in Meuselwitz bei
„Görlers“, den
Hochfrequenzwerkstätten, übrigens dem Schauplatz von
Hilbigs
„Weibern“.
Einfach,
weil er Interesse hatte, die Gesamtzusammenhänge des Betriebes
zu
begreifen, bat er einen alten Kumpel, der inzwischen dort Ingenieur
war,
um eine Betriebsbesichtigung – so wie ihm
übrigens als
Teenager sein Schmöllner Onkel, ein Fabrikantensohn und damals
Buchhalter in der volkseigenen Schmöllner Knopffabrik
ebenfalls all
die Arbeitsgänge zeigte.
Als
Kalka, vollbärtig und mit langem Haar, mit dem Ingenieur durch
die
Hallen kam, meinten die Arbeiter tatsächlich, er wäre
von
den
Geheimen – denn sonst kam doch niemand auf die Idee, sich die
Arbeit der einfachen Leute zeigen zu lassen.
Kurios
ist, dass der Direktor dieser Fabrik all die Jahre für das MfS
arbeitete. Er bespitzelte Westfirmen unter verschiedenen
Identitäten
mit gefälschten Papieren (unter anderem der eines
Bundestagsabgeordneten) und wurde vor einigen Jahren vom ZDF
enttarnt.
Noch
kurioser, aber DDR-typisch: anstatt auf Innovation zu setzen und den
kreativen Kräften freien Lauf zu gewähren,
produzierte der Betrieb
Billigradios alter Bauart, die für 10 Westmark verkauft
wurden.
Anstatt, wenn er schon spionierte, sich was Besseres zu besorgen
–
für den Betrieb. Und von mir aus: auch für den
Sozialismus.
O-Ton
Kalka: „Im Spätsommer 1982 schrieb ich in wenigen
Tagen das ganze
Liedprogramm zu den Meuselwitzer
Liedern, stellte es gleich darauf auch noch in Leipzig
zur Chansonwerkstatt vor und Jens-Uwe Günther war so angetan,
dass
ich es nicht fassen konnte.
Und: ich hatte aus der Szene gleich ein
Dutzend Freunde gefunden. Aber ich wollte es vor Ort spielen
– so
fand die Premiere im überfüllten Meuselwitzer
Jugendclub statt.
Daraufhin folgte letztlich ein Auftrittsverbot. Pech gehabt. Falsch
gemacht. Wär ich doch gleich in Leipzig geblieben.“
Denn
da gab es durch den Leipziger „Liederpapst“ Odwin
Quast
beim Stadtkabinett für Kulturarbeit Leipzig eine
großzügige Talenteförderung mit Gesangs-,
Gitarreunterricht.
Kompositionsunterricht machte der Leipziger Jazz-Guru Ralph Stolle
höchstpersönlich.
In
der Turm-Boheme seines alten Freundes Lutz Nitzsche saßen sie
zusammen: Thomas Böhme, Jayne-Ann Igel, Adolf Endler, Heinz
Czechowski,
auch Sascha Anderson, Hans Brinkmann und vor allem: Peter
Geist. Diskutierten über Literatur oder lasen Texte und ein
spezielles Ritual hatte sich eingebürgert: die Lesung auf der
Leiter.
Wichtig
für Kalka war die Begegnung mit dem 1978 noch völlig
unbekannten
Schriftsteller Wolfgang Hilbig, den er im Meuselwitzer Lindenhof kurz
nach seiner Freilassung kennenlernte und mit dem er literarisch und
persönlich eine Zeit lang in intensivem Austausch stand. Das
ging so
weit, dass Kalka Texte für Hilbig in den Westen schmuggelte.
Aber
eigentlich noch vor den Meuselwitzer Liedern, unter dem Einfluss der
Folkszene, begann er sich Ende der 70er, mit Walter von der
Vogelweide zu beschäftigen. Dafür spielte die Herausgabe von Hubert
Witt „Frau Welt, ich hab von dir getrunken“, aber auch ein
kleiner Reclam-Band mit Sprüchen, herausgegeben von H. Protze, eine
wichtige Rolle. Als Programm war es geplant, ist aber nie aufgeführt
worden. Erst Ende der 2010er Jahre wurde die Idee durch eine
Rundfunksendung mit eigenen Nachdichtungen Kalkas und einer Vertonung
verwirklicht. Podcast auf der "Allgäuer Milchschleuder".
Nach
dem Altenburger Auftrittsverbot zog Kalka nach Leipzig in die
Absolventenwohnung seines Schulfreundes Volker Hanisch, welche sich
über der Synagoge in der Keilstraße
4
befand. In der meditativen Atmosphäre dieses Gebäudes und des
umgebenen ehemaligen jüdisches Pelzhändlerviertels, das
förmlich
nach Geschichte roch, schrieb Kalka in den 80er Jahren seine Lieder,
auch eins auf Jiddisch. Schließlich ist das jiddisch-deutsche
Wörterbuch gleich 30 Meter um die Ecke im Bibliographischen
Institut herausgegeben worden.
O-Ton: „Hier fand ich einen den
Schutzraum vor Bespitzelung und rigider Parteilinie, um meine Liedprogramme zu schreiben.“
Es
gab auch einige
Begegnungen mit dem Gemeindevorsteher Aron Adlerstein, der ihm
Geld lieh, weil Kalka sonst nicht zum Auftritt hätte fahren
können. Aus diesen Erfahrungen wuchs einiges nach: das Theaterstück "Zwey ungleijche Brieder", UA 1998 im
Theater „fact“ - jeweils mit langen Diskussionen
nach den Aufführungen.
Thema: Der Diktator H. wird von Partisanen gefangen genommen und wartet
in
Israel auf seinen Prozess. Die Dialoge um Schuld und Tilgung entspinnen
sich zwischen ihm und dem Gefängnisdoktor.
Dazu
kamen in den 90ern Nachdichtungen polnischer Lyriker wie Krzysztof
Paczuski und Alekzander Rozenfeld - und eine Radiosendung über
die beiden. Als Krönung war Kalka Teilnehmer der
jüdischen Kulturtage in
Leipzig mit seinen „Liedern aus der Keilstraße
4“.
In
seinem Romanprojekt „Das
Bandoneon des Kulturministers“ will er die
Atmosphäre dieses Hauses
einfangen. Der Gemeindevorsteher Tewel Honigman ist eine der
Hauptfiguren des Romanes. Die These, dieses
Haus sei nicht nur jüdischer Besitz gewesen, sondern
exterritorial, spinnt
Kalka im Roman weiter.
Die
Hetzjagd der Kleinbonzin von Altenburg ging aber im Hintergrund
weiter. Ihr Vorgesetzter im Bezirkskabinett für Kulturarbeit
Leipzig, der IM Peter Vonstein, nutzte die nächste sichere
Gelegenheit.
Laut
Akten der Gauck-Behörde waren MfS, Zentralkomitee der SED und
Kulturministerium im Spiel.
Ein
anvisiertes Berufsverbot konnte durch die „Leipziger
Solidarität“
verhindert werden.
Dennoch
wurden landesweit die Auftrittsmöglichkeiten beschnitten, eine
Tournee gänzlich gekündigt und Kalka erfuhr gar von
einem
Veranstalter aus Potsdam, dass er informiert sei, ihn nicht
einzuladen. 'Aber gerade deswegen wollte ich dich haben'.
Solche
gabs auch!
Die
Leipziger Solidarität war,
wenn man so will, umfassend und vielfältig. Von finanzieller
Unterstütztung (Heinz-Martin
Benecke) bis zu einem Fördervertrag – ja
so etwas gab es, weil
es so etwas gab wie eine demokratische Einrichtung – ein
„Arbeitskreis Chanson“, der vorschlagen und gar
beschließen
konnte, nur musste der Chef noch unterschreiben. Dr. Chalupsky
unterschrieb, wenn auch nach Bedenkzeit.
Der
"Liederpapst" Odwin Quast war Vorsitzender des
Arbeitskreises und hat Kalka „damals aus dem Schlamassel
gehaun“.
In
den heute einsehbaren Akten ist es sehr deutlich nachzuvollziehn.
Aber
es gab auch andere wie Hubertus
Schmidt und Peter
Cäsar Gläser, die Kalka in ihr illegales
Privatstudio einluden
und die Titel für eine geplante West-LP abmischten.
Die
1984 gegründete Folkband „Dieters
Frohe Zukunft“, sollte mit Witz und Satire und
musikalischem
Format aufwarten. Das Programm „Der Bauernmarkt von
Klein-Paris“
enthielt bissige Anspielungen auf den Eisernen Vorhang („In
Trudes
Weitspuckstube / spuckst du von Klein-Paris / auf die ganze
Welt“),
sowie Songs wie „Der Schanzenraub zu Hohburg“ sowie
dem
„Stehgeiger
vom Ringcafé“. Sie tourten efolgreich,
aber auch hier wurden
Tourneen wegen Kalkas Nymbus abgesagt.
Die
Band organisierte auch das illegale Folk-Dichter-Songwriter-Treffen
Ringelfolk
in der inzwischen längst geschlossenen Ringelnatzklause
Wurzen.
Ein
in den Westen geschmuggeltes Tonband erreichte einen Verleger des
Folkshops Nottuln, der Kalka einen Plattenvertrag anbot. Der Brief
kam aufgerissen und von der Stasi gelesen an. Kalka lief dann mit
diesem Schreiben von „Pontius zu Pilatus“ und hielt
es den Bonzen
vor die Nase,
von denen sich einige verfrüht freuten, er
stelle nun
endlich einen Ausreiseantrag.
Im
Gegenteil: Er behauptete, mit einer Fotografin nach Georgien reisen
zu wollen oder an die Trasse...
Über
die Ilmenau-Connection landeten eine Trabbiladung mit Studenten im
Kloster
Michaelsstein. Es hatte sich beim Ilmenauer Jazzklub (!!!)
herumgesprochen daß dort Chansontage seien. Einer der
Technikstudenten nahm sein Tonband mit, um aufzuzeichnen:
„Techniker
eben! Man zeichnete in Ilmenau jedes Konzert mit, was stattfand
–
und heute ist trotz der unüberschaubaren Menge noch einiges zu
entdecken.
Der
übervorsichtige Werner Bernreuther wollte uns erst nicht
dabeihaben.
Wer weiß, vielleicht waren wir ja die geschickten IMs? Aber
Wolfgang
Schlemminger fand uns nicht unsymphatisch. Wir erhielten einen
„Zuschauerstatus“ und mussten uns nur eine Bleibe
suchen. Ich
sang dann noch meine Vertonung eines Zigeunergedichtes und eins auf
Mittelhochdeutsch – da war das Eis gebrochen. Thommy Riedel
zeigte
mir dann gleich recht gute Gitarrenriffs und unser mitgeschlepptes
Tonband lief unten zum nächstlichen Sängerwettstreit
im
Klosterkeller und zeichnete auf. Allerdings hatte Werner das Band
einbehalten – aus Urheberrechtsgründen. Wir hassten
ihn dafür!
Lange und intensiv.
Aber
ein paar Jahre später fuhr ich wieder hin in die heimelige
Atmosphäre der Liederleute, die wunderbar miteinander sangen,
jeder
anders, jeder richtiger, jeder tiefsinniger, jeder explosiver und
Werner wurde er mein Lehrer. Mentor nannte man das damals. Meinen
Berufsausweis habe ich seinen strengen Bühnenkritierien zu
verdanken
und – seiner 'Kunst der Wiederholbarkeit'. Und damit auch
meinen
Preis bei den Chansontagen der DDR 1987.“
Kalka
schrieb in den 80ern in kurzer Zeit einige Dutzend Lieder
für fünf Bühnenprogramme.
„Das
utopische Festival“ war einem Sammelsurium von
unauflösbaren
Gegensätzen im widerspruchsbereinigten Land der Dialektik mit
bissigen Versen wie „Mein Vaterland ist, wo mein Vater kein
Land
hat“.
Drei
Jahre später, auch noch mit einer Werbekarte, die aussah wie
ein
Steckbrief (und trotz allem Unken zum Trotz eine Druckgenehmigung
erheilt – obwohl: zu Auftritten hing das Plakat oft nur eine
kurze
Stunde, bevors die Geheimen einsammelten) „Noch habe ich die
FREIHEIT
zu lieben“, voller Liebeslieder auf politischem
Splitterglasgrund:
„Dann steh vor jeder Ampel ich und sehe nur noch
Rot“.
Nur
ein Jahr darauf, ein Monat vor der Wende nahm das Programm
„Sonnen-Wende“ diese vorweg: „Ich brauche
zum Leben die Wende“
Vertonungen
von Rainer Maria Rilke, Arthur Rimbaud, Kurt Arnold Findeisen, Franz
Hodjak, Guillaume Apollinaire, Georges Brassens, Léo
Ferré, Andreas Reimann und Emanuel von Bodman stellten seine
eigenen
Texte neben die der Weltliteratur. Dazu gehörten auch
Interpretationen von Bulat
Okudschawa und Waldimir
Wyssotzki. Von Letzterem besitzt der Liedermacher alle in der UdSSR
erschienenen Langspielplatten.
Dazu kamen verjazzte Stücke
von
Johann Sebastian Bach auf dem Bandoneon. Zur Chansonwerkstatt 1988
wurde das von Traditionalisten kritisiert. Die anwesenden Jazzer
luden ihn zur Session ein. Seinem Quasi-Vorbild Francois Villon widmete
er ein ganzes Lied: "Francois, du großer Schatten / auf
meiner
Hintertür, / wenn ich mich heimlich fortschleich /
läufst du
mir hinterher."
Die
Vielseitigkeit des Songwriters wird vielleicht betont durch seine
Mitarbeit ab Mitte der 80er bei Fried Wandels Potsdamer Folkband Tippelklimper.
Er
„spielte dort das überhaupt nicht
mittelalterliche Bandoneon,
aber mit Baujahr 1920 das weitaus älteste Instrument auf der
Bühne“,
witzelte Wim Dobbrisch zum 25-Jährigen
Jubiläumskonzert der Band.
Die
Ballade über den mittelalterlichen Dudelsackspieler Nikol
Reifenteuffel nach dem Text von Kurt-Arnold Findeisen wurde von
anderen Mittelaltermusikern wie Robert Beckmann regelrecht geklaut,
das heißt während des Vortrages immer eine oder zwei Strophen mitgeschrieben,
ebenfalls vom späteren
Tanzwut-Sänger übernommen und brachte Letzterem
seinen
Künstlernamen „Teufel“ ein.
„Beckmann
freute sich, wenn er nach jedem Vortrag zwei oder drei
Strophen mitkritzelt hatte. Für zwei Bier hätte ich
ihm das Blatt
gegeben und er hätte sich's abschreiben können. Aber
er wollte es
so – und ich? Ich habe ihm zugesehn. Was solls
auch?“
Während
der Wende im Herbst 1989 trat Kalka bei ALLEN
Solidaritätskonzerten
für die inhaftierten Demonstranten in den Leipziger Kirchen
auf,
auch in der vom Revolutionspfarrer Christoph Wonneberger.
Kalkas
Auftritte begannen im Keller seines Gymnasiums, später setzte
sich
der „Underground“ noch fort mit Kirchenauftritten
in der DDR und
anderem Underclass-Attituden, wenngleich er durchaus auch in
größeren
Häusern spielte und die Bühnensituation als Solist
spielend
meisterte, aber richtig ans rechte Licht und zur Geltung kamen seine
Balladen nicht bei den größeren Auftritten wie den
im
Kleist-Theater zu den offiziellen Chansontagen der DDR in
Frankfurt/Oder 1987, wo die ganze Liedprominenz der DDR anwesend war
(und er danach einen Preis erhielt und ein Angebot eines
Amiga-Produzenten), sondern eben in jener Kirche des Leipziger Ostens
vor über 1500 Zuhörern, die im Herbst 89 eine
wirkliche Veränderung
im Lande wollten.
Nichts
desto trotz. Der Surwolder Kritiker Kai
Engelke, den Kalka auf der
Burg
Waldeck kennenlernte, bezeichnete ihn als einen der wichtigen
Songschreiber Deutschlands.
Und wenn man allein seine Einzelveröffentlichungen in Polen
bis 2003 anschaut, kommt man mit Nachdichtungen und Herausgaben auf über 50.
Aber das steht fast schon auf einem anderen Blatt. Wie er den Preis der
Niederschlesischen Literaturtage 1999 wirklich erhalten hat, oder ob es
sich "nur" um eine Anekdote handelt, bleibt wohl ein Geheimnis: "Der
Festivalchef Marian Szalecki wollte mir die
damals
üblichen 25% Steuer auf mein Honorar ersparen und
überreichte mir deshalb einen 'steuerfreien' Preis."
Gleichwohl:
Preis ist Preis. Auch der von 1987 zu der Leipziger Chansonwerkstatt -
den er vor Publikum zurückgab. Weswegen? Jemand wollte ihm
vorschreiben, was er zu singen hatte. Ach ja, da gibts
tatsächlich noch
ein Video davon. Vielleicht lädt es mal jemand hoch...
Nach der Wende drängte der Lyriker und Schriftsteller
Dieter
Kalka immer mehr in den Vordergrund, unter anderem mit zwei
Prosawerken in
polnischer Sprache, einem Gedichtband-
und Erzählband, zwei
"Beulenspiegel"-Publikationen und dem großen Roman "Sudicka" über den Genozid
an den slawischen Völkern zwischen Saale/Elbe und Oder vor
über 1000 Jahren.
Dem Genre Chanson blieb er bis dato treu, unter anderem durch die
Liederszene-Website und die CD/DVD
zur Leipziger Liederszene, deren Mitherausgeber er war. Und nicht
zuletzt durch die Sendereihe zur Liederszene bei Radio Blau und die
geplante Neuauflage des Chansoncafés in Horns Erben 2019.
Kalka,
genetisch gesehen Halbpole/Halbdeutscher, dazu: „Es hat mich nie
interessiert. Ich bin in Thüringen aufgewachsen. Aber da ich mich in
Polen Anfang der 90er nach den ersten Begegnungen auffällig wohl
fühlte, als wäre ich in meiner wirklichen Heimat angekommen,
stellte ich Fragen. Wenn ich heute mit 65 sage, ich hätte zwei
Vaterländer, so ist das halb Scherz und doch irgendwie ernst
gemeint. Nachdem hier nach 2010 Asylantenheime angezündet wurden,
sagte ich mir: Wenns böse kommt, könnte ich immerhin noch nach
Polen auswandern. Nachdem hier die Genderstapo unterwegs
ist als Anprangerbande und in den Medien wirrste Anschuldigungen
ablässt, sagte ich mir: Naja, kannst ja noch nach Polen. Die
Katholische Kirche – ach, die haben ihren Index abgeschafft. Die
habe ich in meinen Texten so oft gereizt – nie kam eine Reaktion.
Da wird nix mehr passieren.“ Dafür kommen die Stalinisten wieder aus ihren Schlupflöchern.
Wegen
des Genderns hat er einen freundlich-satirischen Text geschrieben und
offenbar voll ins Schwarze getroffen: "Negerküsse in
Zigeunersoße". Die Ahnungen, Vermutungen – das trifft
alles zu. Die Alten, Weisen wurden früher geachtet. Heute ächtet
man sie als „alten weißen Mann“.
Kalka:
„Heute habe ich in Connewitz in der Kaufhalle beobachtet, wie ein
35-jähriger Mann einen 85-Jährigen zwei Minuten lang angebrüllt
hatte. Der junge Mann war 1.95 groß, der alte gebückt 1,55. Der
Grund: dem Alten sind zwei Brötchen aus dem Selbstbedienungsfach
gefallen. Er
hat sie aufgehoben und wieder zurückgelegt. Das war Anlass genug,
ihn in der Kaufhalle ‚zusammenzuscheißen wie seinerzeit der SS-ler
einen Juden auf der Straße - nur dass sie heute keine Uniform mehr
tragen,‘ hörte ich eine ältere Dame neben mir, die dem Opa zu
Hilfe kam, während der Brüller mit
seinem Hinterkopfzöpfchen abzog,
einer jener, die aufpassen, dass keiner den anderen beleidigt mit einem
falschen Wörtchen. Nun hat er sich geoutet. So sind sie wirklich.
‚Ja, vielleicht ist es besser, wenn jemand für Sie
einkauft‘, sagte sie leise, ‚Aber dann kommen Sie ja gar nicht mehr aus dem Haus,‘ tröstete ihn die alte Dame weiter, ‚Kaufen Sie
weiter hier ein! Die
Verkäuferinnen sind ja so
nett. Das kann ja jedem
passieren.‘ Sie wollte
der Verkäuferin einen Euro geben,
um den Schaden zu ersetzen.
Die
meinte: ‚Nein, das muss wirklich nicht sein!‘
‚War
das einer Ihrer Detektive‘, wollte die Oma wissen.
‚Von
uns nicht. Sicher nur ein Käufer. Aber das haben wir öfter hier.
Die sind so.‘
Die
Oma brachte den 85-jährigen Mann an die Kasse und schüttelte dabei
die ganze Zeit mit dem Kopf: „Da
bin ich nun vor dreißig Jahren mit auf die Straße gegangen für die
Freiheit. Nun haben‘s die jungen Leute – und was machen sie
draus?“
Ist
das der Tenor, auf den wir uns in
Bälde einstellen
müssen?“
So
wie es eine "Rezensent" geschafft hat, in einem kurzen Artikel 30
Lügen zu verbreiten und die Zeitung – das Noje
Toitschlant – nimmt es auch noch.
„Die
liest doch keiner,“ sagen Freunde.
Oder:
„So eine Ehre auch!“
Wahrscheinlich
ist's eine Ehre.