Osterland ist abgebrannt

oDER

dER iTZ-wEG

oN tHE iTZ-wAY


Durch diese Gassen zogen nach ihrer Elbüberquerung die Ger-Mannen, ihnen voran die Thoringer. Was links und rechts überlebte, wurde unterworfen, steuerpflichtig, vermischt, überfremdet, befestigt, zu Rittern geschlagen, zu Knappen rekrutiert. Von den Ureinwohnern blieben archäologische Relikte wie Scherben von Schnurkeramik und wer Swantewid genannt wurde, hieß von nun an Thor. Aus der heidnischen Dreieinigkeit wurde die heilige nach dem übernächsten Krieg. Die Slawen hockten hier, heckten wie die Karnickel, tanzten um Frühlingsfeuer, pflanzten Weiden und Kirschen, benannten sich um, wurden Thoringer, germanischer als die Ger-Mannen, Christen – christlicher als Christus, Bonapartisten – kleinwüchsiger als Napoleon und Marxisten – marxistischer als Lenin. Jeweils nach dem übernächsten Krieg. Sie mieden Stimmlokale und keiner von ihnen hat je ein Parlament von innen gesehn. Nach der Rückgabe der rückeroberten slawischen Ostgebiete durch das Großrussische Reich sowjetischer Gesinnung fielen die Slawen wieder den Ersteroberern in die Hände und diese verkündeten: Rückgabe vor Entschädigung.

Vor jedem Haus erschienen Alteigentümer und stritten sich, wer denn der älteste Eigentümer sei und die Thoringer Slawen, zu marxistischen Thüringern mutiert, besannen sich auf den Heiland und die erhaltenen Kirchen und zahlen Kirchensteuer bis zum Ende des Lebens und blechen an Alteigentümer für Häuser, in denen sie immer schon wohnten und saßen, die sie bewohnten und besaßen.

Am Vormittag von Walburgis, der heidnischen Hochzeit des Bauern mit Mutter Erde, den Fruchtbarkeitsritualen, dem Segnen der Natur mit Tänzen und der Unschuld des Feuers, dem Drama des Winter-Austreibens, dem Hochgefühl auf Kommendes, blühen die Kirschen. Fast alle Straßen sind von diesen Bäumen gesäumt von Platschütz bis Geußnitz, von Dobraschütz bis Illsitz, von Kriebitzsch bis Tröglitz und weiter nach Norden. Kirschland heißt dieser Flecken. Wer ihn so nennt, wird wiedergeboren als Kirsche, heißt es in einer Sage. Osterland ist der Deckname für Kirschland. Aber Osterland ist abgebrannt.

Denn es ist eine Chimäre der Nachwendezeit. Ostara, das haben die eifrigen konservativen Umbenenner übersehen, ist die Germanische Frühlingsgöttin und Ostern das Fruchtbarkeitsfest der Ostara, heute mühsam übertüncht mit dem Kreuzigungsritual. Aber was, um aller Götter Willen, hat Ostara hier verloren. Gehören ihr die Altäre, die Kirchlein, die Felder und die Kirschen?

Ja, Kirschen wachsen hier, als wären sie zuallerst da gewesen. Vor allem anderen. Sie stehen, blühen, reifen und fallen ab. Keiner pflückt sie, als wären es heilige Pflanzen. Nur Stare vergreifen sich daran und Katzen lungern auf der Wiese, im Sprung, einen Vogel zu haschen. Alte Bäume, unsagbar alt. Mit tropfendem Baumsaft, über die Rinde rinnend wie geronnenes Schweigen. Knorrig wie Urahnen. Junge Zellen wachsen unter gedörrter Rinde nach außen und keine Dürrezeit nimmt den Stämmen die Kraft. Wurzeln breiten sich aus, heben den Teer der Straße, zersetzen Sandstein, dringen in Mörtel. Zwischen Schwanitz und Göllnitz mit stillgelegten Mostereien, Tegkwitz und Dobraschütz, wo sie in verstaubten Schreinereien Butangas vertreiben, in Schelditz, Görnitz und Geußnitz, Oelsen, wo das Ausflugslokal, der Rosengarten zusammengehalten wird von Spinnweben, in Prehlitz, Penkwitz – alles rundherum weggebaggert und untergraben: Wo Slawen hausten, gab es Schätze. Silber, Braunkohle, Uran. Oder zumindestens Vieh und Weiber. Die slawischen Slawen haben sich immer wieder unter die Thoringer Slawen, die slawischen Marxisten oder rechristianisierten Umbenannten gemischt. Legale heimliche Völkerwanderungen während der Erntezeiten. So auch meine Vorfahren, die kamen aus Poznan, blieben in Schnauderhainichen hängen und Urgroßvater zog in seinen ersten deutschen Krieg. Wo er auch blieb. Sein Sohn, der ihn nie zu Gesicht bekam, zog um nach Krostitz, weil unter seinem Haus Schätze lagen und das nächtliche Kreischen der Schaufelradbagger sollte ich bis in meine Pubertät hören. Meine Großmutter hieß Josefiak, verheiratet Kalka. Das klang wenigstens ein bischen Deutsch und sie überlebte den zweiten deutschen Krieg.

jUST oN tHE iTZ-wAY

In einem Mehnaer Bauernhaus, etwas oberhalb des Angers, saß ich mit Marina, der Schreinerstochter, in einer winzigen Laube mit Fenstern ohne Glas, luftig gebaut, mit Bank und Tisch im Innern. Zwei Meter weiter krähte der Hahn auf dem Mist, links ein winziges Blumenbeet, der Rest war wild wachsender Rasen, nie gemäht, nie geschnitten, nur zertreten. Marina kämmte mir die Haare. Ich flocht ihr Zöpfe. Sie verriet mir damals, als wir auf der Bodenkammer das verstaubte Grammophon fanden, was sie werden wolle: Friseuse.

Sie legte die Schelllackplatten auf (die ich endlich mit drei „l“s schreiben darf) und ich kurbelte, bis die Feder aufgezogen war. In Wehner Lenes Stube hörten wir das Knacken und Marina knipste das Licht aus. Hände huschten. Der Atem des anderen spürbar auf der Haut.

Im Nebenraum wohnte Großmutter – die Durchgangstür war durch einen Schrank versteckt. Darüber lebten Marinas Eltern und Wehner Lene streunte durchs Dorf. Huschte von Zimmer zu Zimmer. Sie war ein Symbol für Geduld und Großzügigkeit, eine Frau, die ich nie schimpfen hörte, nicht einmal, als wir ihre beste Kaffeetasse zerbrachen. Alle Grenzen der Erwachsenen waren ausgelotet. Es gab immer Empfindlichkeiten oder einen Punkt, wo sie es nicht mehr aushielten. Wehner Lene hatte keine Grenzen. Wir tobten über Tische und Stühle, krochen unter die Couch, warfen mit Kissen, kitzelten uns, bis aus Lachen Weinen wurde. Wir spuckten mit Kirschkernen, traten uns auf die Füße, hörten Radio, sahen fern. Brannten Kerzen an und tropften Wachs auf den Teppich. Wir ließen es genug sein, weil wir uns selbst nicht mehr ertrugen. Marina knipste das Licht aus. Unvorbereitet ihre Hand auf meinem Knie. Mein Mund spürte ihren Atem. Ein Geräusch. Licht. Wehner Lene tapste, sah, knipste das Licht wieder aus und verschwand.

Zur vorletzten Kirschreife zeigte ich das Dorf meiner Frau. Der Gasthof, mit Schwarz-angesagt-Grand-Ouvert-Spielkartenrahmen geschmückt. Im Saal, als Turnhalle genutzt, tanzten wir nach „I Can`t get no“ und „Child of time“, lungerten auf den Matten herum oder lehnten an den Säulen – selten allein. Auf der abschüssigen Straße Walnußbäume, links die Kirche mit dem stecknadelspitzen Turm, den eine goldene Bulle krönt: mit Urkunden, Namen von Wichtigtuern und abgekritzelten Bibelsprüchen. Zweihundert Meter, rechts Gutshäuser, geht’s linkerhand in ein Gäßchen hinein, an dessen Ende ein im Gärtchen verschwindendes Häuschen steht. Kaum groß für eine Familie, aber damals wohnten da zwei oder drei. Davor ein Kinderwagen mit einem kräftigen Schreihals. Das Parterre immer unterkühlt und das Ofenrohr glutrot. Der Schreihals geboren zwölf Jahre und achtundfünfzig Tage nach dem Ende des Krieges.

Unterhalb des Gäßchens das Haus mit dem Hahn auf dem Mist und dem Gartenhäuschen. Mit der Bank vorm Haus. Der Hahn kräht hier nicht mehr und der Mist ist verschwunden. Zwei alte Menschen auf dieser Bank. Der Mann steht auf und läuft auf uns zu. Er erkennt mich nicht. Er sieht aus, wie er immer aussah, denke ich. Die Alten werden nicht alt in unseren Augen. Ich heute so alt wie er damals. Er fragte: „Die Juden kommen immer hier her und wollen uns was verkaufen. Sind Sie Jude?“ Ich nenne einen Namen. Meinen. Er lacht. Öffnet das Tor. Die Frau läuft auf uns zu. „Das habe ich doch gleich gesehn“, zieht sie uns ins Haus. In die Stube der Großmutter. Der Schrank, welcher die Tür verdeckte vom Ende des Krieges bis zu meinem letzten Besuch, ist verschwunden. Ich gehe ins Nebenzimmer, sehe zur Ecke, wo die Couch stand. Der Lichtschalter daneben. Erneuert. Der alte war schwarz. Dieser ist weiß. Es gibt frischgebackenen Kirschkuchen. Sie wollen alles wissen, am meisten die Schreinersfrau. Ich sitze da, als hätte ich immer hier gesessen. Ich rede und schaue mich um in den Pausen. Ich bin in einer anderen Welt, einer anderen Zeit, einem Paralleluniversum. Es riecht anders. Die Fenster sind größer. Die Dielen frisch lackiert. Die düstere Lampe, die unbequeme federnde Couch, das Röhrenradio an der Wand mit zwei Langwellensendern und einem Draht als Antenne, das dunkle Küchenbuffet mit den klemmigen Besteckfächern, der wacklige Metallofen mit den gesprungenen Platten, auf dem so oft der Bratentopf stand, die Spinnen in den Ecken und das Fernsehschränkchen mit den selbstgemachten Likören im Fach, der Tisch für sechs Personen, ausgezogen auch für neun oder dreizehn, wenn man die Kinder auf den Schoß nahm, das gute Buffet mit dem Goldrandporzellan, den tiefen Tellern und Schüsseln für Feiertage, den geschliffenen Weingläsern hinter den Glasschiebetürchen – ein Geschenk der LPG „Frohe Zukunft“ zum XX. Jahrestag und den Tischdecken in den unteren Kästchen, den weißen leinernen Tischdecken, auf denen sich kein Fleck breitmachen durfte vorm Tischgebet, das nicht mehr gesprochen wurde: Das war Großmutter. Großmutters kleine Welt. Wo alles seinen Platz hatte. Wo ich alles fand. Alles, was ich brauchte. Bis im Nebenzimmer das Licht ausging.

Großmutter ist verschwunden und Großmutters kleine große Welt gibt es nicht mehr. Wehner Lene starb, irgendwann erzählte es mir mein Vater. Auch ihre große kleine Welt mit den Kirschkernen, den Tischen und Stühlen, den zerbrochenen Kaffeetassen, dem Grammphon und Schelllackplatten mit den erstehnten drei „l“s ist nicht mehr auffindbar, nicht einmal mehr Reste, nicht einmal ein Krümel.

Das Haus wird überragt von zwei Kirschenbäumen. Die Schreinersfrau drückt mir einen Bahnert in die Hand. Ihr Mann überprüft die Leiter und ich pflücke zwei Körbe. Einen für sie. Einen für mich.

jUST eVER oN tHE iTZ-wAY

Fast zwei Jahre später, zur Kirschblüte, fahre ich dort vorbei, am Walburgisvormittag. Ich halte, steige aus, läute an einem Haus, in dessen Erdgeschoß sich ein Friseurlädchen befindet. Eine korpulente kleine Frau öffnet. „Frau Fritsche“, spreche ich sie mit ihrem Mädchennamen an. „Schüler“, korrigiert sie mich. In meinem Anzug sehe ich aus wie ein Vertreter. Sie erkennt mich nicht. Wie ihr Vater mich nicht erkannte. Ich nenne einen Namen. Wir sitzen auf ihrer Terrasse. Ihren Mann stellt sie mich vor mit: Das war mal mein Freund.

Marina habe ich nie geliebt. Oder ich wußte es nur nicht?

Das Kirschland mit seinen sanften Hügeln verlieh mir eine Gelassenheit, die ich, verlasse ich diese Gegend, entbehre. Es ist Aufgehobensein im Schoß der wilden Horden, Getragenwerden von den Kirsch-Legenden, dem Geheimnis der sprachfremden Ortsnamen, die alle enden mit „witz“, „schitz“, „nitz“, „litz“ oder „ditz“. Was liegt darin verborgen? Was, wenn man es öffnet und freilegt wie die Schätze der Erde? Sollen sie doch Vieh und Weiber nehmen! Nicht aber die Schätze der Erde! Sie nahmen sich Weiber und Vieh. Danach die Schätze der Erde. Verflucht! Der Fluch hält an. Er trifft jene, die sich sicher fühlen. Schacherer, Geldwertvermehrer, Heidenverachter. Swantewid lehnt an einer der Knorpelkirschen und beißt hinein. Hier ist das Leben! Süßes Leben. Swantewid wartet auf die Rückkehr seiner Slawen als Slawen.

iTZ-wEG eNDE. nAJA, eIN üTZ uND`n iTZSCH wAR aUCH dABEI

sOLLY!

 

 

 

 

 

 


ALTE GIESSEREI -- ABC-Hallen -- BAHNHOF -- DIE ALTE ABDECKEREI -- TÖPFEREI -- SCHARFE ECKE -- STADTHAUS -- KLUBHAUS --MARKT -- KINO -- TOPPSCHNITT-TAUBERT -- MÜHLE --KZ-AUSSENLAGER BUCHENWALD - 2 -- POLIKLINIK -- POLIKLINIK ZIPSENDORF -- GALGENBERG -- VATER(s)LAND -- OSTERLAND -- MÄDERSCHULE -- GÄRTEN -- GRENZSTRASSE -- SKAT -- KATHOLISCHE KIRCHE -- DIE GEWICHTE - MEUSELWITZER DICHTERGARTEN -- WOLFGANG HILBIG - 1 -- 2 -- 3 -- TOM POHLMANN -- MIKE PAULENZ -- GEBURTSHAUS VON WOLFGANG HILBIG -- LUCKAZISMEN -- FOTOGRAFIKERIN EDITH TAR -- HEIMATDICHTERinnen -- 5 EICHEN -- PUMPENWÄRTER -- BRICKETTFABRIK BISMARK -- WITOLD DER BERGMANN -- RUSENDORFER TAGEBAU -- ENTENTEICH -- HAINBERGSEE -- PHÖNIX -- GRUBENBAHN -- MEUSEWITZ LUFTAUFNAHMEN -- HEUERSDORF

LOGOS LOGOPÄDIE DIETER KALKA LEIPZIG-CONNEWITZ -- SCHRIFTSTELLER LIEDERMACHER LOGOPÄDE

PortalPolen -- Polnische Lyrik -- Bohemes & Bohemiens